Mariesa in Malmö, Schweden© Brahms

„Dafür bin ich zu deutsch, das kann ich nicht.“

von Lena Kuhn

Anmerkung: Dieses Gespräch wurde vor Weihnachten geführt.

Mariesa, du studierst in diesem Semester in Schweden. Wie kamst du auf das Land?

Dem Land Schweden fühle ich mich seit Langem verbunden. Früher war ich dort immer mit meiner Familie im Urlaub. Dadurch, dass ich in Norddeutschland groß geworden bin, habe ich schon immer viel von der skandinavischen Kultur mitbekommen. Deswegen hatte ich eine romantische Vorstellung eines Bullerbü-ähnlichen Schweden. Der hat sich in meiner Zeit hier auf jeden Fall relativiert, aber das ist nichts Schlechtes. Schweden war schon immer mein Traum. Als ich schaute, welche Partnerhochschulen die FH hat, und dann meine Prioritäten festlegte, waren alle in Skandinavien angesiedelt. Schweden natürlich, und dann hatte ich noch Norwegen und Finnland in Betracht gezogen. Nachher ist es Schweden geworden, weil ich dachte, ein Auslandssemester ist eine gute Möglichkeit, mal für ein halbes Jahr in ein anderes Land zu gehen und dort zu leben. Und dann auch noch da, wo ich es mir schon immer gewünscht hatte.

Wo genau befindest du dich gerade?

Jetzt bin ich in Jönköping [Anmerkung der Redaktion: Das spricht sich „Jönschöpping“]. Das liegt im Småland. Da kommen ja auch viele Figuren aus den Geschichten von Astrid Lindgren her: Michel aus Lönneberga und Pippi Langstrumpf etwa. Das passt auch perfekt zu mir.

Wie unterscheidet sich die Hochschule in Deutschland zu der in  Schweden?

Man merkt der Hochschule Jönköping an, dass hier viel Geld in die Hand genommen wurde. Das fängt beim Bau und der Ausstattung an. Hier ist alles sehr ansprechend gestaltet. Es wurde viel Wert darauf gelegt, dass man sich als Studierender hier wohl fühlt. Die Innenräume sind ansprechend, dass eine angenehme Lernatmosphäre entsteht. Ich studiere an der Hochschule für Kommunikation und Lehre. In dem Gebäude, in dem meine Veranstaltungen stattfinden, ist mittendrin ein kleiner Bach und ein kleiner Innengarten. Außerdem gibt es eine Dachterrasse, die ist einfach wunderschön. Als ich das erste Mal den Campus betrat, war ich ganz verblüfft. Ich finde den Campus der FH, verglichen mit anderen Hochschulcampi, schon wirklich schön, auch mit der Nähe zum Wasser. Aber der Campus hier hat mir ganz neue Dimensionen der Möglichkeiten in der Gestaltung aufgezeigt.

Der zweite große Unterschied ist die Gemeinschaft. Obwohl es Restriktionen wegen Corona gab, hatten wir eine Einführungswoche, in der von anderen Studierenden geplante Veranstaltungen stattfanden. Jede Fakultät hat Spiele und Bar-Touren veranstaltet. Die Spiele waren Kennenlern-Spiele, die man vielleicht aus dem Teambuilding kennt. Und es gab ein Aufnahmeritual. Es ist hier Standard, dass jede*r Student*in sich einen Overall kauft, der die Farbe der Fakultät hat, an der man studiert. Bei mir ist das blau, Ingenieur*innen wären gelb, Mediziner*innen wären weiß. Man hatte in der Einführungswoche Zeit, Patches zu sammeln, um den Overall zu verzieren. Das war ein krasses Programm, damit hatte ich nicht gerechnet. Mit der Ersti-Woche an der FH kann man das nicht vergleichen. Gemeinschaft ist hier ein sehr wichtiger Aspekt.

Und wie sind die Vorlesungen?

In der Lehre merkt man Unterschiede am Draht zu den Lehrenden. In skandinavischen Ländern ist es nicht üblich, dass man sie siezt. Vielmehr spricht man Professores hier mit dem Vornamen an. Dafür bin ich zu deutsch, das kann ich nicht. Ich kann doch keine Mails an meine Professoren schreiben mit den Worten „Hey, Sulmain!“ Die Distanz ist viel kleiner, das macht die Lehre wesentlich interaktiver. Als deutsche Studierende bin ich es gewohnt, mich auf wissenschaftliche Quellen zu beziehen. Hier wird oft aus persönlicher Erfahrung berichtet, auch, wenn wir in wissenschaftlich relevanten Kursen sitzen. Da wird erwartet, dass wir persönliche Geschichten erzählen, dass wir ins Plaudern kommen. Das kann ich auch gar nicht.

Du bist trotz der Pandemie ins Auslandssemester gegangen. Für viele deiner Kommiliton*innen war das nicht möglich. Wie fühlte es sich an, als eine von wenigen doch nach Schweden zu gehen?

Ich muss ehrlich sagen, darüber habe ich nicht so viel nachgedacht, weil ich wusste, in Deutschland habe ich nichts verpasst. Die Situation war ja so, wie sie war, als ich im August nach Schweden ging. Ich hatte mehr Angst darüber, dass ich zum ersten Mal für eine lange Zeit mein Heimatland verlasse, und gar nicht so genau weiß, was in Schweden auf mich zukommt, oder wie ich damit klarkomme. In dem Kontext kannte ich mich ja noch gar nicht. Ich bin da ziemlich unbedarft rangegangen, weil ich wusste, dass mich in Schweden keine großen Restriktionen erwarten. Ich kam ja im Sommer an. Ich wusste nur, dass ich neue Leute kennenlernen werde, dass ich dort hoffentlich eine angenehme Zeit verbringe. Dieses positive Gefühl hat die Corona-Angst erst mal in den Schatten gestellt. Jetzt, wo Schweden mehr und mehr umschwenkt und auf mehr Vorsicht und mehr Restriktionen pocht, ändert sich das ein bisschen. Das sind zwar alles Empfehlungen, und wer sich nicht daran hält, muss nicht wirklich Konsequenzen fürchten, weil hier auf das Verantwortungsbewusstsein der Einzelnen gesetzt wird. Aber wir nähern uns der Situation in Deutschland an. Und wenn ich mich entscheiden muss, in welchem Lockdown ich sitze, dann bin ich lieber in Deutschland. Kurz bevor ich nach Schweden ging, hat mich ein Kommilitone angeschrieben, der eigentlich mit mir nach Jönköpping gekommen wäre. Er hat das abgesagt, und es so begründet: „Ich kann die Schweden einfach nicht einschätzen.“ Damals habe ich mich gefragt, warum er die Schweden einschätzen will. Ich dachte, er hat auch Angst um seine eigene Gesundheit. Ich hatte weniger Angst vor dem Virus als dass ich Angst davor hatte, meine Familie oder Risikogruppen anzustecken. Deswegen wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, das Auslandssemester abzusagen.

Wie sehen die Corona-Restriktionen momentan bei dir aus?

Wir sitzen nicht alle zuhause, anders als in Deutschland. Bei uns trägt man auch keine Maske. Es ist allen freigestellt, welche Maßnahmen man persönlich ergreifen will. Dazu zählt auch das Tragen von Masken. Heute habe ich draußen insgesamt zwei Menschen mit Maske gesehen. Bis vor zwei Wochen waren Clubs und Bars regulär geöffnet, und die Straßen entsprechend voll. Jetzt schließen sie um 2 Uhr nachts. An den Tagen, an denen man hier für gewöhnlich etwas trinken ging, also mittwochs, freitags und samstags, da hat man nichts von Corona gesehen. Überall waren Menschen, die Bars waren voll gesessen. Deswegen gibt es jetzt ein Ausschank-Verbot nach 22 Uhr. Seit letzter Woche darf man sich nur noch zu acht treffen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das strafrechtlich verfolgt wird, wenn man dagegen verstößt. Das sind die einzigen Restriktionen, die mich betreffen.

Wie läuft der Hochschul-Unterricht bei dir ab?

Für mich ist es so: Es wird uns freigestellt, ob wir in Präsenz oder online an Veranstaltungen teilnehmen. Ich habe einen Schwedisch-Kurs, der findet auf dem Campus in Präsenz statt. Der Campus ist auch noch relativ belebt. Wir haben drei Cafés, die sind weiterhin geöffnet und werden bewirtet. Man kann auch noch jedes Gebäude betreten. Es steht zwar überall Desinfektionsmittel, aber es wird nicht gezählt, wie viele Personen sich in einem Raum aufhalten. Ich darf selbst entscheiden, ob ich auf den Campus gehen möchte oder nicht. Wer das nicht möchte, kann von zuhause aus an Veranstaltungen teilnehmen. Dann werden Inhalte online gestellt oder Vorlesungen gestreamt. Bis vor drei Wochen hatte die Bar auf dem Campus noch jeden Mittwoch geöffnet.  Es ist hier ein Brauch, mittwochs nach Vorlesungen dort ein Bier zu trinken. Sie war immer nur bis acht Uhr offen, danach ist man weiter in die nächste Bar.

Konntest du trotz Pandemie ein paar touristische Erlebnisse mitnehmen?

Klar. Das könnte ich auch immer noch, das ist nicht das Problem. Ich war in Malmö und Göteborg. Außerdem kann man hier ganz toll wandern. Jönköpping liegt direkt am Vätternsee, der ist wunderschön. Rund herum gibt es diese wunderbaren schwedischen Bootshäuser, die im Winter nicht bewohnt sind. Es stört also keine Seele, wenn man sich dort direkt ans Wasser setzt. Der See hier hat das wunderschönste, klarste Wasser, das man sich vorstellen kann. Man kann die Fische klar sehen. Wenn Enten vorbei schwimmen, sieht man deren Füßchen. Was ich aber versuche zu vermeiden, ist der Bus. Denn auch dort trägt niemand Maske, und sie sind weiterhin komplett überfüllt. Theoretisch könnte ich auch noch Bus fahren, aber ich möchte einfach nicht. Das schränkt mich natürlich etwas ein.

Hast du Angst vor einem Kulturschock, wenn du aus dem relativ offenen Schweden zurück in den Shutdown nach Deutschland kommst?  

Nein. Ich habe mehr Angst davor, das hier zu verlassen. Ich habe hier viele neue Freund*innen gefunden, eine Routine entwickelt, schöne Momente verbracht. Es ist immer komisch, wenn man einen Lebensabschnitt hinter sich lässt. Ich freue mich schon richtig darauf, nach Hause zu kommen. Bisher überwiegt die Freude. Schweden fühlt sich an wie eine Corona-freie Insel, und ich hatte hier entspannte Monate, aber so langsam kippt bei mir die Stimmung auch. Das macht den Abschied vermutlich auch ein bisschen leichter. Wenn es mir bis zum Ende meines Auslandssemesters möglich gewesen wäre, mit meinen Freund*innen wie gewohnt abzuhängen und mich ins Nachtleben zu stürzen, so wie wir das vor der Pandemie alle gewohnt waren, wäre es schwerer gewesen, Tschüss zu sagen. Vielleicht habe ich auch noch nicht so viel darüber nachgedacht, als eine Art Schutzreflex. Ich habe noch nicht so viel darüber geredet, auch mit meinen Freund*innen hier nicht, was passiert, wenn ich gehen muss. Das ist noch ein bisschen weit weg, auch wenn ich nur noch diesen Monat hier bin.

© Fachhochschule Kiel