Ein Mann© P. Knittler

Im Umgang mit der digitalen Öffentlichkeit sind wir noch Neandertaler

von Martin Geist

Pöbeleien, Herabwürdigungen, sexistisch oder rassistisch motivierte Beleidigungen, unmissverständliche Todesdrohungen: Die Hetze im Internet kennt scheinbar keine Grenzen. Aber woher kommt es, dass manche Menschen – sobald sie im digitalen Raum unterwegs sind – ihre Erziehung und alles vergessen, was sie über ein kultiviertes Miteinander gelernt haben? Ein Gespräch mit dem Migrations- und Familiensoziologen Prof. Dr. Vassilis Tsianos vom Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit.

Guten Tag, Herr Prof. Tsianos. Wir haben uns eben freundlich begrüßt, in unverbindlicher Vorrede eine entspannte Atmosphäre erzeugt und werden jetzt aller Voraussicht nach ein von gegenseitigem Respekt geprägtes Gespräch führen. Was ich damit meine: So wie wir sind ja die allermeisten Menschen: Sie begegnen sich höflich, mit Respekt und einer gewissen Toleranz. Wieso erleben wir dann im Internet ganz andere Leute? Weshalb schleudert man mit Worten um sich, die man im Dialog von Mensch zu Mensch wahrscheinlich nie benutzen würde?

Zunächst einmal kann ich dazu aus eigener Erfahrung etwas sagen. Es ist nie ratsam, im Affekt E-Mails zu beantworten, über deren Inhalt man sich ärgert. Wenn ich so etwas gemacht habe, habe ich es immer bereut. Nicht, dass das wirklich schlimme Ausmaße erreicht hätte. Aber wenn ich mich auf den Schlips getreten fühlte, reagierte ich einfach nicht so, wie ich das von mir selbst erwartet hätte. Ich machte meinerseits ein bisschen auf beleidigt, stichelte zurück und fand es dann selber ziemlich kindisch. Da war aber die Nachricht schon gesendet. Was zu analogen Zeiten oft anders gelaufen wäre. Etwas in heiligem Übereifer zu Papier zu bringen, ist das eine. Das andere ist es, den Brief in einen Umschlag zu stecken, eine Briefmarke darauf zu kleben und zum nächsten Postkasten zu bringen. Innerhalb dieses Prozesses hat man sehr viel Zeit zu überlegen, ob das Ganze wirklich eine gute Idee ist.

Aber solche recht dezenten Reaktionen sind doch eigentlich vertretbar, wenn man sich selbst angegriffen fühlt.

Ja, im Prinzip schon. Wir reden ja hier von den ganz normalen Mikroaggressionen des Alltags. Das gehört zu jeder Paarbeziehung, zu jedem beruflichen Umfeld, zum sozialen Miteinander überhaupt. Und wenn wir ehrlich sind, mögen wir es auch ein Stück weit. Hier eine kleine Frotzelei, da eine ironische Spitze, das kann tatsächlich das Salz in der Suppe sein. Das Problem ist nur der Unterschied zwischen Face-to-Face-Kommunikation und dem Austausch über Soziale Medien. Wenn mir eine Person unmittelbar gegenübersitzt, möchte ich sie in aller Regel nicht beleidigen oder herabwürdigen, weil mir das ebenfalls unangenehm wäre. Und sogar, wenn mal ein Spruch übers Ziel hinausschießt, bekomme ich das sofort gespiegelt und kann zurückrudern oder mich entschuldigen, die Situation in irgendeiner Weise retten.

Mit den Sozialen Medien ist das anders. Im positiven wie im negativen Sinn. Positiv ist, dass wir unsere aktuelle Lebenswelt sofort verlassen und in ein ganz anderes Metier tauchen können. Ich sitze zuhause am Schreibtisch, schaue in den grauen Kieler Himmel und kommuniziere gleichzeitig mit einem Bekannten, der im sonnigen Süden schwitzt. Das Negative hängt mit dem zusammen, was man Aufmerksamkeits-Ökonomie nennt. Wer in knapper Weise eine Äußerung oder Meinung von sich gibt, die das Zeug zur kontroversen Auseinandersetzung hat, gewinnt die meiste Beachtung. Kommt dann noch Zorn hinzu, kann das leicht in Zonen führen, in denen die Auseinandersetzung am Ende des Tages mit juristischen Mitteln läuft.

Soziale Medien funktionieren in diesem Sinn tatsächlich als Radikalisierungsmaschinen. Wir haben erst geglaubt, sie seien Demokratisierungsmaschinen, weil Informationen viel breiter gesammelt und geteilt werden können, ohne dass große Apparate oder Organisationen im Spiel sind. Das stimmt zwar immer noch, aber die Sozialen Medien haben eben auch ihre hässliche Seite.

Corona spielt in diesen Zeiten irgendwie in allen Lebensbereichen eine Rolle. Gilt das auch für das Phänomen ‚Hate Speech‘?

Hate Speech fing jedenfalls nicht mit dieser Pandemie an, das gab es schon vorher. Ich glaube aber durchaus, dass so etwas wie die Pandemie verschärfend wirkt, weil sie stark zur Vereinzelung führt und damit zu weniger sozialer Kontrolle. Die Aufmerksamkeits-Ökonomie funktioniert ja in zwei Richtungen. Wer fürchterliche Dinge von sich gibt, mag aus den anonymen Untiefen des Netzes viel Ermunterung erfahren. Es ist aber zugleich immer damit zu rechnen, dass man im wirklichen Leben Menschen begegnet, die solche Äußerungen zur Kenntnis genommen haben und missbilligen. Egal ob es um den Freundes- und Bekanntenkreis, den Arbeitsplatz oder den Sportverein geht – schon die Möglichkeit, dass es zu negativen Reaktionen kommen könnte, wirkt oftmals zügelnd.

Andererseits glaube ich schon, dass es heutzutage eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz für gut dosierte Pöbeleien gibt. Und damit verbunden einen Trend, die Belastbarkeit der öffentlichen Moral zu testen.

Das betrachte ich jedoch mit einiger Gelassenheit. Ich glaube, wir müssen keine Angst um unsere Demokratie haben, weil sie ohnehin als Diskurs-Demokratie angelegt ist. Streit, auch in sehr hemdsärmeliger Form, gehört dazu. Denken wir an die teilweise theaterreif kontroversen Parlamentsdebatten von Leuten wie Herbert Wehner, Franz-Josef Strauß oder auch Helmut Schmidt in der Bonner Republik. Da fasste man sich wahrlich nicht mit Samthandschuhen an.

Der Unterschied ist, dass es damals um einen Kampf der Meinungen ging, um einen Wettstreit der politischen Ideen. Heute begegnet uns dagegen oft blanker Unsinn, gepaart mit Falschinformationen oder allenfalls Halbwissen.

Das mit dem, sagen wir mal, ‚ausbaufähigen Wissen‘ kommt oft daher, dass Menschen in erster Linie aus ihrer eigenen Erfahrung heraus argumentieren. Verbindet sich das dann noch mit Emotionen im Affekt, ist es nicht mehr weit zum Hate Speech. Man vergisst dabei, die persönliche Erfahrung mit allgemeinen und seriösen Informationen abzugleichen. Täte man das, dann würde sich manche aufwallende Empörung schnell relativieren. Aus soziologischer Sicht betrachtet lässt sich sagen: Wenn man ein einziges Mal eine Erfahrung macht, sollte man sie nicht zu wichtig nehmen, macht man zehnmal die gleiche Erfahrung, sollte man eine Studie auf den Weg bringen.

Apropos Studie. Gibt es eigentlich an der FH Kiel bei Studierenden oder auch Lehrenden Erfahrungen mit Hassrede?

Man hört gewiss nicht jeden Tag, aber doch immer wieder, dass so etwas auf beiden Seiten vorkommt. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sich schon einmal verletzt gefühlt haben von Äußerungen, die sie in Sozialen Netzwerken über sich lesen mussten.  Geschehen kann so etwas nicht nur auf Plattformen wie Facebook oder Instagram, sondern auch in WhatsApp-Gruppen, zu denen sich Studierende häufig innerhalb von Lehrveranstaltungen zusammenschließen. Etwas näher kenne ich den Fall einer Studentin, die wirklich schlimmen Herabwürdigungen ausgesetzt war. Sie hat dann lange getan, was nach einer Studie des Leipziger Instituts für Demokratieforschung die meisten Betroffenen tun: Sie schwieg. Das ist einerseits verständlich, andererseits aber auch gefährlich, denn Schweigen ist im Grunde die Internalisierung der an uns begangenen Traumatisierung. Hassrede erreicht insofern ihr Ziel also tatsächlich, sie macht die Opfer mundtot.

Wenn Menschen auf diese Weise behandelt werden – und sei es auch in Ausnahmefällen – müssten doch eigentlich alle Alarmglocken schrillen.

Das ist völlig richtig, aber die Sache gestaltet sich trotzdem nicht so einfach. Nach dem Motto ‚Das wird man ja noch sagen dürfen‘ berufen sich auch Leute, die mehr als Grenzwertiges von sich geben, auf die Meinungsfreiheit. Und tatsächlich ist Meinungsfreiheit ja ein ebenso zentraler Wert unserer Verfassung wie der Schutz der Menschenwürde. Wir kommen also nicht darum herum, immer wieder und im Zweifel in jedem Einzelfall abzuwägen. Wenn sich Menschen, die in sozialen Netzen beleidigt und herabgewürdigt werden, im Ergebnis überhaupt nicht mehr äußern, ist das mehr als nur das Ende der Meinungsfreiheit. Diese Menschen werden sozial kaltgestellt, und das kann dann wirklich auch an die physische Existenz gehen. Andererseits gilt dieses Argument dem Grunde nach auch für Leute, die ihre Meinung drastisch, vielleicht zu drastisch ausdrücken. Wir wissen sehr genau, dass Personen, die sich nicht frei äußern dürfen, stark darunter leiden und beispielsweise Depressionen entwickeln. Oder in bestimmten Fällen auch Aggressionen bis zur tatsächlichen Gewalttätigkeit. So oder so ist das weit gefährlicher für unsere Demokratie. Was ich sagen will: Wir haben in der Regel allen Grund, sehr misstrauisch zu sein, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt werden soll. Wir müssen nicht weit schauen, sondern beispielsweise nur nach Osteuropa, was mit Gesellschaften passiert, in denen es – mit zumeist durchsichtigen Argumenten – der Meinungsfreiheit an den Kragen geht. Das bedeutet nicht, dass wir diesen Wert über alles stellen sollten, aber wir sollten die Angst vor einer Einschränkung der Meinungsfreiheit als genauso wichtig betrachten wie die Angst vor Verletzung und Diskriminierung. Und wenn wir die Möglichkeit haben, beides abwägen zu können, ist das Demokratie!

Das klingt zwar schön, aber wer dem rechts von der Mitte oder mit Aluhüten bestückten Spektrum angehört, beklagt sich immer wieder darüber, dass entsprechende Meinungen mit mehr oder weniger offener Ausgrenzung bestraft werden.

Allgemein ist es natürlich so, dass man mit Gegenwind rechnen muss, wenn man seinen Kopf zum Fenster herausstreckt. Wer sich also sehr deutlich äußert, muss auch sehr deutliche Reaktionen in Kauf nehmen. Alle Seiten sollten sich aber auch davor hüten, Meinungen oder Initiativen zu verdammen, nur weil sie nicht ihrer Haltung entsprechen. Die Aufgeregtheiten um die Videoclip-Aktion #ALLESDICHTMACHEN zum Beispiel war sicher übertrieben und die Forderung nach Auftrittsverboten völlig daneben. Es handelt sich nur um ein paar Schauspielerinnen und Schauspieler, die gewohnt sind, fremde Texte vorzutragen. Jetzt haben sie eigene Sätze von sich gegeben, und die waren halt nicht immer sonderlich gelungen.

Es gibt aber auch immer wieder Fälle von im Netz geäußerten Inhalten, die jede Anstandsgrenze überschreiten und trotzdem von der Justiz gebilligt werden. Wenn eine Politikerin als ‚Schlampe‘ und mit noch weit schlimmeren Worten betitelt werden darf, stimmt doch etwas nicht.

Solche Fälle kann ich genauso wenig nachvollziehen. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir im Umgang mit der digitalen Öffentlichkeit immer noch Neandertaler sind. Das ist so ähnlich wie bei Gutenberg. Als die erste Bibel gedruckt wurde, spürten die Menschen, dass sich damit etwas Grundlegendes zu ändern begann. Aber wirklich etwas damit anzufangen wussten sie nicht. Sie mussten es erst mühsam lernen.

Haben Sie persönlich schon Erfahrungen mit Hassrede machen müssen?

Ich bin zwar durchaus in den Sozialen Netzwerken unterwegs, habe aber auf diesen Kanälen noch nie etwas wirklich Bösartiges über meine Person gefunden. Manchmal bekomme ich E-Mails aus dem eher rechten Lager, denn ich beschäftige mich ja auch mit Themen wie Rassismus. Wenn darin freundlich und respektvoll formuliert zum Ausdruck gebracht wird, ich würde mich gegen die Interessen des deutschen Volkes stellen, dann beleidigt mich das nicht. Ich finde es besser so, als das Gefühl zu haben, dass jemand etwas über mich denkt, es aber nicht sagt.

Vielleicht noch ein schönes Beispiel zum Schluss: Auch zu meinen Lehrveranstaltungen bilden sich immer wieder WhatsApp-Gruppen. Einmal als ich das Rauchen aufgab und zunächst entsprechend gereizt war, nannte sich eine solche Gruppe ‚Vorsicht Tsianos hat mit dem Rauchen aufgehört‘. Das finde ich lustig, weil es zeigt, wie man auf gelungene Weise mit Ironie so etwas aufgreifen kann.

Wie lange liegt diese gereizte Phase zurück?

Ungefähr vier Jahre. Und ich rauche immer noch nicht.

© Fachhochschule Kiel