Menschen stehen Schlange an einem Grenzübergang.© Privat

Nicosia

von viel.-Redaktion

NICOSIA – eine Exkursion mit vielfältigen Einblicken in Pädagogik, Politik und Kultur einer geteilten Stadt auf der Mittelmeerinsel Zypern

Diesen Fragen und anderen ging die Exkursion des Fachbereichs Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Kiel (Prof. Dr. Sylvia Kägi und Vertretungsprofessor Dr. Vassilis Tsianos) und des Instituts für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln (Prof. Dr. Ursula Stenger) in diesem Jahr nach. Schon am ersten Tag wurde deutlich, dass die theoretischen und konzeptionellen pädagogischen Fragen in einem geteilten Zypern, vor allem durch politische und kulturelle Fragen den Alltag vieler Familien und damit auch der pädagogischen Einrichtungen bestimmen.

Zypern, eine Insel im östlichen Mittelmeer und nur 80 km Seeweg von Syrien entfernt, besteht seit 1974 aus einem griechisch-zypriotischen Teil, in dem ca. 800.000 Menschen leben, und einem türkisch-zypriotischen Teil, mit ca. 300.000 EinwohnerInnen. Die Grenze ist durch einen ‚grünen Streifen’ getrennt, der von den UN kontrolliert wird. Genau diese Grenze durchzieht die Stadt Nicosia. So ist der Alltag der Menschen auf Zypern (wie in Nicosia) in vielerlei Hinsicht ‚geteilt’ – nicht nur in Bezug auf Kultur und Religion. Auch die Bewegungsmöglichkeiten für die hier lebenden Menschen sind in Bezug auf die ‚andere’ Seite von Zypern eingeschränkt. Und obwohl wir nur wenige Tage in diesem Land waren, erlebten wir doch, wie die äußerlich sichtbaren Grenzen sich auch in innerlichen Grenzen der Wahrnehmung von Realität widerspiegelten.

Die Anlage der Exkursion war breit. Neben dem Besuch einiger sozialpädagogischer Einrichtungen nahmen wir an der Tagung zum Thema „Equality as the Means to Lasting Peace: Critical Social Policy and Welfare State in Post-conflict Cyprus“ teil (an deren Organisation Herr Prof. Dr. Tsianos beteiligt war). Diese Breite der Anlage ermöglichte uns, verschiedene Perspektiven auf das Leben in Nikosia in den Blick zu nehmen.

Hospitationen in Kindertageseinrichtungen

Nach einem ersten Abend, an dem wir von unseren zypriotischen Partnern herzlich empfangen wurden, besuchten wir am zweiten Tag Kindertageseinrichtungen im griechisch-zypriotischen Teil und im türkisch-zypriotischen Teil von Nicosia.

In der türkisch-zypriotischen staatlichen Kindertageseinrichtung werden ca. 120 Kinder im Alter von 4 Jahren betreut. Jeweils 18 Kinder werden von 2 pädagogischen Fachkräften betreut. Die Betreuungszeit beträgt 5 Stunden. Die Kinder bekommen im Laufe des Vormittags verschiedene Angebote im Rhythmus von 25 Minuten, unterbrochen von Pausen und Freispiel. Angebote sind didaktische Bildungseinheiten, die zum Teil durch Beamerpräsentationen und Whiteboards unterstützt werden. Auffällig war, dass die Kinder eine Art Kita-Uniform tragen (bestehend aus T-Shirt und Hose). Die Lehrkräfte in der Kita haben einen Hochschulabschluss und werden unterstützt durch Assistenzkräfte.

Die Kindertageseinrichtung, die wir im griechisch-zypriotischen Teil der Insel besucht haben, befindet sich in der Nähe der Universität von Nicosia. Betreut werden hier Kinder zwischen 4 Monaten und 6 Jahren. Das Konzept betont den kindzentrierten Charakter der Einrichtung. Angestrebt wird, dem Kind eine emotional sichere Umgebung anzubieten, die als Grundlage für die Schaffung einer Bildungsgemeinschaft betrachtet wird. Ziel ist, das Kind in allen Entwicklungsbereichen zu unterstützen und den Bedürfnissen des einzelnen Kindes gerecht zu werden. Besonderes Augenmerk wird auf die Entwicklung der Beziehungen, die Verwendung der Sinne, Kommunikation sowie der emotionalen, kognitiven und körperliche Entwicklung des Kindes gelegt. Bemerkenswert ist ein Betreuungsschlüssel, der für die unter Zweijährigen zwei pädagogische Fachkräfte in Gruppen von bis zu 6 Kindern vorsieht.

Die Eindrücke aus beiden Hospitationen konnten am Nachmittag in der University of Nicosia ausgetauscht werden. Anschließend gab Dr. Gregory Neoclous einen Überblick über den vierjährigen Studiengang Bachelor of Science ‚Social Work’ an der University Nicosia, einer privaten Hochschule. Hier wurden Parallelitäten und Unterschiede deutlich. Die Studierenden schließen insgesamt 40 Kurse ab und müssen drei Praktika absolvieren, die systematisch aufgebaut und begleitet werden. Seit drei Jahren bietet die Universität auch ein dreisemestriges Master-Programm in griechischer und englischer Sprache an.

„Equality as the Means to Lasting Peace: Critical Social Policy and Welfare State in Post-conflict Cyprus“

Unter diesem Titel fand am 19. Oktober 2016 eine Tagung im Home for Cooperation, Association for Historical Dialogue and Reasearch in der von den UN kontrollierten Zone zwischen den beiden Landesteilen statt. Organisiert wurde die englischsprachige Tagung durch die „Social Services in the Contest of Conflict Network“. Hier diskutierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Universitäten und Nationen (u.a. Prof. Dr. Nicos Trimikliniotis, University of Nicosia; Prof. Dr. Vasilis Ioakimidis, University of Durham; Vertretungsprofessor Dr. Vassilis Tsianos Kiel University of Applied Sciences, Dr. Ayşe Ozada, Lecturer of social work in TBC), GewerkschaftsaktivistInnen, und VertreterInnen von NGOs. Darüber hinaus war dies eine der ersten Initiativen, die Gespräche zwischen SozialarbeiterInnen sowie Studierenden aus beiden Teilen Zyperns mit Studierenden aus Deutschland und Great Britain ermöglichten. Nach einer kurzen Einführung standen im ersten Teil der Tagung Betroffeneninitiativen im Fokus (Committee of TOGETHER WE CAN: Bi-communal Initiative of Relatives of Missing Persons and Victims of Massacres and War). Nach wie vor belastet 50 Jahre altes Unrecht auf beiden Seiten den Friedensprozess in der Gegenwart. Wie wichtig eine Aufarbeitung der damaligen Gewalt ist, machten Betroffene deutlich. Unter dem Titel ‚Common suffering, common action: Dealing with disappereances and past violence’ berichteten Betroffene aus beiden Teilen Zyperns von ihren persönlichen Schicksalen. VertreterInnen der Stelle für vermisste Personen berichteten von ihren Versuchen, anhand von Knochenanalysen menschliche Überreste zu identifizieren und ihren Familien so Gewissheit und die Möglichkeit, ihre Verwandten zu beerdigen, zu geben. Schließlich ging es um die Verbindung zwischen Aufarbeitung der Vergangenheit und Strategien eines Versöhnungs- und Friedensprozesses.

Am Nachmittag gingen WissenschaftlerInnen der Universität Nicosia und der Durham University der Frage nach, vor welchen Herausforderungen die Sozialpolitik und der Wohlfahrtsstaat aktuell stehen und welche Bedeutung die Sozialen Dienste im Rahmen des Konflikts haben. Schließlich gingen zwei parallele Workshops folgenden Fragen nach:

  • Social and Economic Convergences: Setting the policy-frame for transition towards reunification and development in Cyprus (Panayiotis Pantelides, Sener Elcil, Pavlos Kalosinatos)
  • Education, Children and Reconciliation: Kindergarten of Demokracy (Prof. Dr. Raingard Knauer, Kyriacos Pachoulides, Dr. Ayse Ozada)

Wie groß diese Herausforderungen sind, wurde für einen Teil der Gruppe am dritten Tag beim Besuch der Forensik Abteilung der Committee for Missing Persons in Cyprus nochmals deutlich. Auf dem Gelände des von den UN verwalteten und überwachten ehemaligen Flughafens von Nikosia, arbeiten HumanarchäologInnen, AnthropologInnen und WissenschaftlerInnen anderer forensischer Disziplinen zusammen. Sie spüren die Überreste von Toten auf, bergen diese und geben ihnen durch DNA-Vergleiche ihre Identität zurück. ÄrztInnen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen versuchen, für die betroffenen Familien einen angemessenen Rahmen für die Bearbeitung der Traumata zu schaffen. Committee for Missing Persons in Cyprus ist Mitglied der internationalen Kommission für Vermisste Personen (ICMP, International Commission on Missing Persons), eine Organisation, die das Schicksal Vermisster nach Naturkatastrophen, Kriegen und Bürgerkriegen aufklärt.

Der dritte Tag bot darüber hinaus die Möglichkeit, sich über Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit im Rahmen des Programms „Social inclusion and street work“ zu informieren. Zum Ausklang der Exkursion erlebten Deutsche, Engländer und Zyprioten ein grandioses Konzert der Band Γάβ.

Die Exkursion war auch in diesem Jahr für alle Beteiligten mit einem intensiven Austausch verbunden. Neben verschiedenen Themen der Pädagogik waren es immer wieder vor allem Fragen um auch eine politische Verantwortung von Pädagogik sowie dem Zusammenhang von Pädagogik und Politik. Welche Möglichkeiten hat Pädagogik in solchen Konflikten, friedliche Prozesse zu befördern?

Neben vielen ernsten Themen erlebten wir aber immer wieder auch das zypriotische Lebensgefühl, das in einem Reiseführer mit dem Motto der „heiteren Gelassenheit“ beschrieben wurde. Und am Ende waren wir uns einig: Es lohnt sich, ein wenig dieser heiteren Gelassenheit, die eher zum Ziel führt, auch in das herbstliche Deutschland mitzunehmen.

(Text Raingard Knauer, Fotos Raingard Knauer, Ariane Schorn, Sylvia Kägi)

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