Ein Mann© A. Boye
Prof. Dr. Hauke Mommsen lehrt am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der FH Kiel.

Unspezifische Rückenschmerzen neu gedacht – Mythen, Irrtümer und Wissenschaft

von Prof. Dr. Hauke Mommsen

Rückenschmerzen nehmen seit Jahrzehnten zu und verursachen Milliardenkosten – das Geschäft mit den Rückenschmerz-Patienten boomt. Allerdings sollte niemand Angst oder Sorge vor Rückenschmerzen haben! Sie sind normal, kommen vor und gehen in der Regel von selbst wieder weg. In den absolut seltensten Fällen sind Rückenschmerzen eine ernsthafte Erkrankung. Allerdings führt die Dramatisierung und Pathologisierung von Schmerzzuständen am unteren Rücken häufig zu Chronifizierungen.

Dabei trägt das Gesundheitssystem selbst häufig zur Chronifizierung bei. Viele Diagnosen und Therapien sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Es werden sinnlose Therapien angeboten – von passiven Maßnahmen über unnötige Infiltrationen (‚Spritzen‘) und zu vielen Medikamenten bis hin zu unnötigen Operationen. Alles mag im Einzelfall mal gerechtfertigt sein, ist aber eben kein sogenanntes ‚first-line-treatment‘, also keine wissenschaftlichen Standards mit Basistherapien.

Zudem werden die Diagnose und Therapie nicht mit, sondern lediglich am Patienten gemacht. Dieses Vorgehen schafft unmündige, unaufgeklärte Patienten, die nicht selbstwirksam ihren privaten und beruflichen Alltag organisieren können. Mehr noch: Durch Angst-Vermeidungsverhalten und Angst vor Bewegungen (Kinesiophobien) werden häufig jahrelange ‚Rückenkarrieren‘ manifest.

Denn entgegen weitläufiger Laienmeinung benötigt ein schmerzender Rücken Bewegung und Belastung. Das mag zunächst gefühlter Widerspruch in sich sein. Aber man macht mit dosierter Belastung nichts ‚kaputt‘. Schmerz gehört zur Heilung dazu. Inaktivität führt eher zur Verschlechterung der Symptomatik. Ebenso gibt es keine ‚rausgesprungenen oder verschobenen‘ Wirbel, Gelenke oder Bandscheiben im Rücken. Sie sind niemals ‚raus‘– das ist anatomisch (und ohne Unfall) nicht möglich.

Die Chronifizierung wird weiter verstärkt durch ein mangelndes Verständnis von Schmerzen, sowohl bei Patienten als auch in der Profession. Im heutigen schwierigen Praxissetting der ‚Drehtürmedizin‘, in der kaum Zeit für die Patienten bleibt, führt die zusätzliche mangelnde Kommunikation und Edukation des Patienten zu einer Überforderung – von den therapeutischen Berufen als auch von Patienten.

Ebenso tragen die häufig viel zu frühzeitige Bildgebung (Röntgen und MRT), die vielen nichtwissenschaftlichen passiven Therapien (‚therapeutischer Aktionismus‘), die Immobilisationen und Ruhigstellungen beziehungsweise Vermeidung von aktiven Therapien sowie insbesondere häufige die medikamentösen Therapien zur Chronifizierung bei.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre sind so eindeutig und erdrückend, dass nicht nur eine Reform im Umgang mit Schmerzpatienten erfolgen muss, sondern ein medizinischer Paradigmenwechsel. Kein einziges Medikament, keine einzelne Übung, keine eine Spritze wird die komplexen Schmerzprobleme des Patienten lindern oder gar heilen können, wenn nicht zuvor wesentlich notwendige Therapien wie Kommunikation, Aufklärung und Edukation erfolgen. Der Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis ist zwingend notwendig.

Akute und chronische unspezifische Rückenschmerzen (lokaler Schmerz im unteren Rücken) sind heutzutage nicht nur als medizinisches Problem zu verstehen, sondern müssen aus der biopsychosozialen Sichtweise betrachtet werden. Die aktuelle Studienlage auf diesem Feld zeigt, dass sich das Denken über Rückenschmerz, aber ebenso die Diagnostik und Therapien in Zukunft grundlegend ändern muss –ein Paradigmenwechsel muss her.

Zehn wissenschaftliche Fakten und Irrtümer zum ‚Rückenschmerz‘

1. Der Rücken ist stark

Der Rücken ist keine instabile, schwache Struktur, sondern von Natur aus stark. Rückenschmerzen werden nicht von einem ‚schwachen‘ oder instabilen Rücken verursacht. Das kann lediglich so sein, wenn der Rücken nicht dazu verwendet wird, wofür er ursprünglich gedacht ist. Durch Mangel an Bewegung und übermäßige Belastung wird es mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu Beschwerden und Funktionsstörungen kommen.

2. Der Rücken will Bewegung

Die Wirbelsäule und der gesamte Rücken mit Muskeln, Faszien und Nerven benötigen aktive Bewegung und Belastungen. Im Alltag und Beruf den Rücken beweglich zu halten, ist die beste Schmerzvorsorge. Körperliche Bewegung reduziert Schmerz und Entzündungsreaktionen. Selbst ein ‚schmerzender Rücken‘ profitiert von derselben, wenn aktive Therapien durchgeführt werden. Prävention ist ein entscheidender Faktor für die Rückengesundheit. Jeder und jede kann selbst viel dazu beitragen.

3. Keine Hysterie

Die meisten Rückenschmerzen sind harmlos und verschwinden wieder nach einiger Zeit. Bleibende Rückenschmerzen können beängstigen und extrem einschränkend sein, sind aber in der Regel ungefährlich.

4. Schmerz bedeutet nicht Schaden

Rückenschmerzen können – analog zu Kopfschmerzen – extrem unangenehm sein, selbst wenn keine Gewebeschädigung vorliegt. Bleibende Rückenschmerzen stehen äußerst selten mit Gewebeschäden oder kaputten Strukturen im Zusammenhang. Schmerzen bei Bewegung und Training bedeuten nicht, dass man sich Schaden zufügt oder Strukturen zerstört werden.

5. Chronifizierung vermeiden

Jeder schlecht informierte Arzt oder Therapeut ist ein Chronifizierungs-Faktor. Und es gibt eine Vielzahl von Chronifizierungs-Faktoren: Unklare Kommunikation bei der Diagnose und der Therapie, negative Kommunikation, passive Therapien (Massagen, physikalische Therapien, Schmerzmittel, Spritzen), Inaktivität und längere Bettruhe; Vermeidung von Bewegungen, lange Arbeitsunfähigkeiten, fehlende Zielsetzung und Prognose.

6. Schmerz ist eine Botschaft

Schmerz ist nicht negativ, wenngleich subjektiv äußerst quälend. Schmerzen sind ein schützendes System der Natur und des Körpers. Wir heilen mit Schmerzen. Schmerzen entstehen nicht nur durch Gewebeschädigungen, sondern können durch weitere Faktoren aufrechterhalten werden. Dazu gehören soziale und kulturelle Faktoren, das Schmerzgedächtnis, Angst und Depressionen. Katastrophisierende Sprache oder Wörter sollten vermieden werden, da sie zu Ängsten und Unsicherheiten führen. Zudem ist der Wege der Besserung sehr individuell. Über Tage und Wochen gibt es keinen konstanten linearen Heilungsverlauf. Schwankungen der Schmerzsymptomatik ist völlig normal.

7. Schmerzmittel dosieren

Pharmakologische Interventionen wie beispielsweise Schmerzmittel sollten nur kurzfristig, mit niedrigst wirksamster Dosis sowie unter Berücksichtigung von Wirkung und Nebenwirkung eingesetzt werden. Alternativen zur Schmerzlinderung – wie Bewegung –sollten berücksichtigt werden. Bewegung, und das bedeutet nicht zwingend Sport – ist das Schmerzmittel des Jahrhunderts.

8. Bildgebungen können täuschen

Bildgebungen wie Magnetresonanztomographie (MRT) oder Röntgen zeigen nur selten die Ursache von Rückenschmerzen auf. Sie werden häufig zu früh durchgeführt und bringen die Gefahr der Fehlinterpretation mit sich. Zudem ändern sie nicht das weitere Management der Patienten. Eine routinemäßige Bildgebung wird nicht mehr empfohlen.

9. Wissen ist wichtig

Selbstwirksame und aufgeklärte Patienten haben eine deutlich bessere Prognose bezüglich Schmerzlinderung. Sie sollten bei Rückenschmerzen den medizinischen Fachkräften Fragen stellen, bezüglich der genauen Diagnose und Prognose. Auch wichtig ist die Frage nach einer im Alltag selbst durchführbaren Therapie.

10. red flags abklären

Rückenschmerzen in Kombination mit Warnhinweisen (sogenannten ‚red flags‘) sollten ärztlich abgeklärt werden. Beispiele für red flags sind ein zusätzlich ausstrahlender Beinschmerz, Fieber, unerklärliche Ursachen, Krebs in der Vorgeschichte oder ein Unfall in der Krankengeschichte.

Praxistipp

 

Gut zum Rücken sein und ihn verwenden, etwa für Spaziergänge, Gymnastik, Tanzen oder Yoga. Inaktivität ist für den Rücken ein pathologischer Zustand, weshalb Sitzen oder dauerhafte Statik vermieden werden sollten.

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