Sie ist ein Kieler Urgestein, ist in der Landeshauptstadt geboren, aufgewachsen und nun als Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit mit dem Schwerpunkt Geschlechterkompetenzen und Diversität tätig. Anja Henningsen hat ihre berufliche Laufbahn an der Christian-Albrecht-Universität mit einem Studium der Erziehungswissenschaften begonnen - wie sie den Weg an die Fachhochschule Kiel gefunden hat, erzählt sie im Interview.
Prof. Dr. Henningsen, Sie haben sich nach Ihrem Diplom für eine akademische Laufbahn entschieden, hatten eine Juniorprofessur für Sexualpädagogik mit dem Schwerpunkt Gewaltprävention – warum ist dieses Thema so wichtig?
Henningsen: Sich mit Sexualität auseinanderzusetzen ist auch in der Sozialen Arbeit oft noch schambehaftet. Der Funke für dieses spezielle Thema ist damals schon während meines Studiums übergesprungen, da hatte ich ein Seminar belegt, das mich sehr interessiert und bewegt hat. Es ging darum, dass wir in der Sozialen Arbeit die Sexualität nicht ausklammern können, schließlich haben wir in diesem Fach sehr viel mit Menschen zu tun. Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass man mehr über das Thema reden muss. Angefangen mit dem Sexualkundeunterricht an der Schule, der oftmals leider noch ziemlich peinlich und prüde ist. Das muss aber gar nicht so sein! Im Grunde hat sich also schon während meines Studiums der Wunsch in mir gefestigt, mit Jugendlichen zu arbeiten, sie aufzuklären – aber eben auch mit Fachkräften daran zu arbeiten, wie man gut über Sexualität sprechen kann. Für mich ist das Enttabuisierungsarbeit, die unbedingt geleistet werden muss. Ebenso problematisch wie das Schweigen über Sexualität ist auch das Schweigen über Gewalt, deshalb wurde uns auch erst vor über einer Dekade bewusst, dass sexualisierte Gewalt ein massives Problem in pädagogischen Kontexten ist.
Wohin führte Sie dieser Entschluss?
Ich habe lange bei ProFamilia gearbeitet, habe Antidiskriminierungsarbeit bei der AIDS-Hilfe in Flensburg geleistet. Bei Letzterem ging es vor allem um die Entstigmatisierung von an HIV erkrankten Menschen. Ich habe außerdem noch in einer kleineren Einrichtung gearbeitet, bei der es um Prävention sexualisierter Gewalt ging. Denn auch da ist das Enttabuisieren sehr wichtig, damit junge Menschen lernen, über ihren Körper und sexuelle Wünsche zu sprechen, um dann selbstbestimmter für sich und ihre Grenzen einzustehen.
Sind Sie auf Widerstand gestoßen?
Ich habe mich viel an Schulen abgearbeitet, wo die Sicht aus Sexualität immer noch eine sehr biologistische ist. Da merkt man eben, dass das Thema schambehaftet ist, wenn die Lehrkräfte gerade mal erklären können, was der Uterus ist und sich eines sehr eingeschränkten Vokabulars bedienen. Die Begriffe Scheide und Schamlippen beispielsweise klingen nicht nach einem positiven Körpergefühl, umso zufriedener bin ich, dass sich die Begriffe Vulva und Vulvalippen zunehmend durchsetzt. Das ist auch ein feministisches Thema, da ging es mir wirklich darum, „aufzurütteln“. Leider beschränkt sich das nicht nur auf das Schulsystem – es gibt einige Sozialarbeiter*innen, die sich über eine hilfreiche Wortwahl keine Gedanken machen. Dabei müssen die mit gutem Beispiel vorangehen.
Aufgrund dieser fehlenden Reflektion passiert auch eine gewisse Unterdrückung der Sexualität von Klient*innen. Gerade wenn wir auf Menschen mit einer Behinderung gucken: Wie kommen sie in den Kontakt mit Menschen außerhalb ihrer Einrichtungen, wenn sie den Wunsch nach einer Partnerschaft haben? Wie verhindere ich Täter*innenstrategien, die Pädagogik*innen entwickeln, um ihre Macht zu missbrauchen? Es ist mir ein Anliegen, zum Nachdenken anzuregen, wie man sicherere Orte schaffen kann.
Nehmen Sie einen Wandel im Umgang mit dem Thema wahr?
An dieser Stelle muss ich meine Studierenden loben: Im Bachelorstudiengang gibt es den Schwerpunkt „Geschlechterkompetenz“, den man wählen kann. Ich merke jedes Mal, dass die richtig Lust drauf haben, sich mit Themen wie sexuelle Selbstbestimmung, Geschlechtergerechtigkeit und Diskriminierung aufgrund geschlechtlicher Identität oder sexueller Orientierung auseinanderzusetzen. Ich glaube, es wächst eine neue Generation an Sozialarbeiter*innen heran, die in dem Thema sehr viel mehr Selbstbestimmung und -bewusstsein mitbringen.
Das Thema ist ja nicht nur ein sehr politisches, sondern auch ein emotionales. Wie gehen Sie in der Lehre damit um?
Wichtig ist es, diversitätsbewusst zu sein – schließlich haben wir an der Fachhochschule Kiel das Glück, eine diverse Studierendenschaft zu haben. Deswegen ist der Diskurs so wichtig: Es gibt Studierende, deren Lebensentwurf in heteronormativen Bahnen verläuft, und wiederum welche, die Dinge in Frage stellen oder Erfahrungen mit Diskriminierung und Gewalt gemacht haben. Und wenn man miteinander darüber spricht, erkennen alle ihre Verwobenheit in Ungleichheit und Unterdrückung. Alle sind davon betroffen, und zugleich entstehen unterschiedliche Privilegierungen. Das ist ein persönlich berührendes und spannendes Lernfeld, das sich nur öffnet, wenn wir die Verschiedenheit anerkennen und versuchen, diskriminierenden Strukturen entgegenzuwirken. So eine kritische Auseinandersetzung ist eine unglaublich wertvolle Erfahrung für die Studierenden, die sie später zu reflektierenden Sozialarbeiter*innen macht.