Sprich mit! - Stu­die zu Er­fah­run­gen von Ju­gend­li­chen mit se­xua­li­sier­ter Ge­walt in Ein­rich­tun­gen der Ju­gend­hil­fe und In­ter­na­ten

Pro­jekt­da­ten

Lauf­zeit
Fe­bru­ar 2013 - Ok­to­ber 2016

Pro­jekt­ver­ant­wort­li­che
Prof. Dr. Jörg M. Fe­gert, Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm
Prof. Dr. phil. Sa­bi­ne Andre­sen, Jo­hann Wolf­gang Goe­the-Uni­ver­si­tät Frank­furt

Kon­takt

Pro­jekt­ko­or­di­na­ti­onthea.​rau(at)uni­kli­nik-ulm.de

Hin­ter­grund des Pro­jekts

Lange Zeit lagen keine Daten aus di­rek­ten Be­fra­gun­gen von Ju­gend­li­chen in Ju­gend­hil­fe­ein­rich­tun­gen und In­ter­na­ten zu deren Er­fah­run­gen zum Thema der se­xu­el­len Ge­walt vor. Die Er­geb­nis­se der Stu­die "Sprich mit!" geben Aus­kunft dar­über, wie häu­fig Ju­gend­li­che se­xu­el­le Ge­walt in ihrem Leben und wäh­rend der Zeit der Un­ter­brin­gung in einer der ge­nann­ten Ein­rich­tung er­fah­ren haben. Mit den Er­geb­nis­sen der Stu­die kön­nen In­ter­ven­ti­on und Prä­ven­ti­on in Zu­sam­men­hang mit se­xu­el­ler Ge­walt in päd­ago­gi­schen Ein­rich­tun­gen bes­ser an die Be­dürf­nis­se von Ju­gend­li­chen an­ge­passt wer­den.

Fra­ge­stel­lung

Wie häu­fig kom­men ver­schie­de­ne For­men se­xu­el­ler Ge­walt­er­fah­run­gen sowie selbst ver­üb­te se­xu­el­le Ge­walt bei Ju­gend­li­chen in sta­tio­nä­ren Ein­rich­tun­gen der Ju­gend­hil­fe und in In­ter­na­ten vor?

Wie häu­fig fin­den sich Sym­pto­me psy­chi­scher Er­kran­kun­gen bei Be­trof­fe­nen se­xu­el­ler Ge­walt?

Gibt es einen Zu­sam­men­hang zwi­schen se­xu­el­len Ge­walt­er­fah­run­gen und ei­ge­nem se­xu­ell ag­gres­si­ven Ver­hal­ten?

Wie un­ter­schei­den sich Pro­ban­d_in­nen, die se­xu­el­le Ge­walt er­fah­ren haben und selbst se­xu­ell ag­gres­si­ves Ver­hal­ten zeig­ten von Pro­ban­d_in­nen, die se­xu­el­le Ge­walt er­fah­ren haben, aber kein se­xu­ell ag­gres­si­ves Ver­hal­ten zeig­ten in Bezug auf Per­sön­lich­keits­fak­to­ren und Sym­pto­me psy­chi­scher Er­kran­kung?

Wel­che kol­lek­ti­ve Ori­en­tie­run­gen, Wis­sens­be­stän­de und Wert­hal­tun­gen fin­den sich bei Ju­gend­li­chen in Ein­rich­tun­gen der Ju­gend­hil­fe und in In­ter­na­ten?

Wel­ches sind die Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen und Fol­gen se­xu­el­ler Ge­walt­er­fah­run­gen?

Stu­die

Er­he­bungs­me­tho­den (quan­ti­ta­tiv, qua­li­ta­tiv)

Fra­ge­bo­gen­erhe­bung:
322 Ju­gend­li­che aus ins­ge­samt 32 Ein­rich­tun­gen (20 Ju­gend­hil­fe­ein­rich­tun­gen, zwölf In­ter­na­te) be­ar­bei­te­ten Fra­ge­bö­gen u.a. Er­fah­run­gen mit se­xu­el­ler Ge­walt, se­xu­ell ag­gres­si­ven Ver­hal­tens­wei­sen, trau­ma­ti­schen Er­leb­nis­sen, sui­zi­da­len Ver­hal­tens­wei­sen, Per­sön­lich­keits­fak­to­ren und zur psy­chi­schen Be­las­tung. Ver­wen­det wur­den stan­dar­di­sier­te For­schungs­in­stru­men­te sowie selbst ent­wi­ckel­te und mo­di­fi­zier­te Fra­gen aus an­de­ren Stu­di­en.

Grup­pen­dis­kus­sio­nen und Ein­zel­in­ter­views:
Wei­ter­hin wur­den zehn ge­schlechts­ho­mo­ge­ne Grup­pen­dis­kus­sio­nen mit je­weils drei bis neun Ju­gend­li­chen durch­ge­führt. Neben der quan­ti­ta­ti­ven Er­he­bung und der Mög­lich­keit, in der Grup­pe über das Thema zu dis­ku­tie­ren bzw. par­al­lel zu den Er­he­bun­gen, wur­den ins­ge­samt 13 In­ter­views mit von se­xu­el­ler Ge­walt be­trof­fe­nen Ju­gend­li­chen durch­ge­führt, in denen er­fah­rungs­ge­mäß spe­zi­fi­sche Kon­tex­te se­xu­el­ler Ge­walt­er­fah­run­gen und Be­wäl­ti­gungs­stra­te­gi­en von be­trof­fe­nen Ju­gend­li­chen tie­fer er­fasst und ana­ly­siert wer­den konn­ten. 

Aus­ge­wähl­te Er­geb­nis­se

In der quan­ti­ta­ti­ven Teil­stu­die gaben 57% der be­frag­ten Ju­gend­li­chen an, schon ein­mal in ir­gend­ei­ner Form se­xu­el­le Ge­walt in ihrem Leben er­fah­ren zu haben. Die Ta­bel­le zeigt die An­tei­le un­ter­schied­li­cher For­men von Über­grif­fen nach Ge­schlecht und Ein­rich­tungs­form auf­ge­schlüs­selt.
In der qua­li­ta­ti­ven Stu­die gin­gen die be­frag­ten Ju­gend­li­chen über­ein­stim­mend und un­ab­hän­gig von Ge­schlecht oder be­wohn­ter Ein­rich­tung davon aus, dass se­xu­el­le Ge­walt etwas mit der Frage nach dem Al­ters­un­ter­schied bzw. mit einem Macht­ge­fäl­le zu tun hat. So wer­den von Mäd­chen­grup­pen zum Bei­spiel se­xu­el­le Kon­tak­te im Rah­men von Be­zie­hun­gen zwi­schen jun­gen Mäd­chen (13/14 Jah­ren) und äl­te­ren Part­nern (über 20 Jahre) als eine Form se­xu­el­ler Ge­walt ein­ge­ord­net. Als Ri­si­ko­fak­to­ren für die Er­fah­rung bzw. das Er­le­ben von se­xu­el­ler Ge­walt wer­den dem­nach ein jun­ges Le­bens­al­ter und damit ver­knüpft man­geln­des Wis­sen und se­xu­el­le Un­mün­dig­keit ge­nannt. Dem­ge­gen­über fo­kus­sie­ren die Jun­gen­grup­pen eher die Aus­hand­lung von Gren­zen im Rah­men freund­schaft­li­cher Be­zie­hun­gen wie z. B. bei der Nut­zung einer po­ten­zi­ell se­xu­ell grenz­ver­let­zen­den Ju­gend­spra­che. Im­pli­zit und ex­pli­zit zeigt sich zudem, dass Ju­gend­li­che davon aus­ge­hen, dass se­xu­el­le Ge­walt in ers­ter Linie bzw. aus­schlie­ß­lich Mäd­chen und jun­gen Frau­en wi­der­fährt. Die Ju­gend­li­chen stim­men un­ab­hän­gig vom Ge­schlecht oder der be­wohn­ten Ein­rich­tung darin über­ein, dass man sich gegen se­xu­el­le Ge­walt weh­ren muss, indem man bei­spiels­wei­se „Nein“ sagt, d.h. ver­bal und/oder kör­per­sprach­lich Gren­zen auf­zeigt und diese auch ver­bal ver­tei­digt. 

Pra­xis­be­zug

  • Dia­gnos­ti­sche, the­ra­peu­ti­sche und be­ra­ten­de An­ge­bo­te für Ju­gend­li­che soll­ten eben­so an­ge­bo­ten wer­den, wie ziel­ge­rich­te­te Schu­lung päd­ago­gi­scher Mit­ar­bei­ter_in­nen.
  • Tä­ter_in­nen soll­ten kon­se­quent be­han­delt und dabei auch ein mög­li­cher Be­trof­fe­nen- und Tä­ter_in­nen­zu­sam­men­hang be­rück­sich­tigt wer­den.
  • Se­xu­el­le Ge­walt unter Gleich­alt­ri­gen soll­te stär­ker be­rück­sich­tigt wer­den.
  • Se­xu­al­päd­ago­gi­sche An­ge­bo­te und An­ge­bo­te zur Prä­ven­ti­on se­xu­el­ler Ge­walt für Ju­gend­li­che soll­ten aus­ge­wei­tet wer­den.
  • Fak­ten­wis­sen zum Thema der se­xu­el­len Ge­walt bei Ju­gend­li­chen soll­te ver­bes­sert wer­den.

Pu­bli­ka­tio­nen

Ver­öf­fent­licht:

All­rog­gen, Marc; Rau, Thea; Oh­lert, Jean­ni­ne; Fe­gert, Jörg M. (2017): Life­time Pr­e­v­a­lence and In­ci­dence of Se­xu­al Vic­ti­mi­za­ti­on of Ado­le­s­cents in In­sti­tu­tio­nal Care. In: Child Abuse Negl. (On­line first).

All­rog­gen, Marc; Gerke, Je­le­na; Rau, Thea; Fe­gert, Jörg M. (2017): Um­gang mit se­xu­el­ler Ge­walt. Eine prak­ti­sche Ori­en­tie­rungs­hil­fe für päd­ago­gi­sche Fach­kräf­te in Ein­rich­tun­gen für Kin­der und Ju­gend­li­che. Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Ulm.

All­rog­gen, Marc; Rau, Thea (2015): Se­xu­el­le Ge­walt unter Kin­dern und Ju­gend­li­chen - eine Her­aus­for­de­rung für Schu­len. In: Aka­de­mie für Leh­rer­fort­bil­dung und Per­so­nal­be­ra­tung (Hrsg.). Ta­gungs­band zur Ju­bi­lä­ums­ver­an­stal­tung 50 Jahre Schul­be­ra­tung in Bay­ern. Dil­lin­gen: Aka­de­mie für Leh­rer­fort­bil­dung und Per­so­nal­füh­rung. S. 89-98.

Rau, Thea; Oh­lert, Jean­ni­ne; Fe­gert, Jörg M.; All­rog­gen, Marc: Dis­clo­sure von Ju­gend­li­chen in Ju­gend­hil­fe­ein­rich­tun­gen und In­ter­na­ten nach se­xu­el­ler Ge­walt­er­fah­rung. In: Pra­xis der Kin­der­psy­cho­lo­gie und Kin­der­psych­ia­trie; 65. S. 638-654.

Rau, Thea (2015): Be­fra­gung von Ju­gend­li­chen zu se­xu­el­ler Ge­walt in Ein­rich­tun­gen der Ju­gend­hil­fe und In­ter­na­ten in Deutsch­land. So­zi­al Extra, 5. S. 38-40.

Rau, Thea; Reh­mann, Peter; De­mant, Marie Zoé; Drews, Ma­nu­el; Andre­sen, Sa­bi­ne; All­rog­gen, Marc (2014): Stu­die zu se­xu­el­ler Ge­walt. Er­reich­bar­keit von Ju­gend­li­chen in Ein­rich­tun­gen der Ju­gend­hil­fe und In­ter­na­ten zu Fra­gen se­xu­el­ler Ge­walt. KJug, 59(4). S. 135-137.

In Vor­be­rei­tung:

Oh­lert, Jean­ni­ne; Seid­ler, Co­rin­na; Rau, Thea; Fe­gert, Jörg M.; All­rog­gen, Marc: Com­pa­ri­son of Psy­cho­pa­tho­lo­gi­cal Sym­ptoms in Ado­le­s­cents who ex­pe­ri­en­ced Se­xu­al Vio­lence as a Vic­tim and/or as a Per­pe­tra­tor. In: Jour­nal of Child Se­xu­al Abuse. In Ar­beit.

Rau, Thea; Oh­lert, Jean­ni­ne; Fe­gert, Jörg M.; Poh­ling, An­drea; Andre­sen, Sa­bi­ne; All­rog­gen, Marc: Psy­chi­sche Auf­fäl­lig­kei­ten von In­ter­nats­schü­ler/innen. Eine deutsch­land­wei­te Be­fra­gung von Ju­gend­li­chen. In: Sozia. Extra. In Ar­beit.