Kindeswohl als kollektives Orientierungsmuster?

Präventive Strategien zur Verhinderung sexuellen Missbrauchs in pädagogischen Einrichtungen

Projektdaten

Laufzeit
Juni 2013 - Dezember 2016

Projektverantwortliche
Prof. Heiner Fangerau, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Prof. Dr. Jörg Fegert/Prof. Dr. Ute Ziegenheim, Universitätsklinikum Ulm
Dr. Willy Viehöver, Universität Augsburg
Prof. Dr. Rudolf Tippelt, Ludwig-Maximilian-Universität München
Dr. Alexander Bagattini, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Kontakt
heiner.fangerau(at)hhu.de
Projektkoordination felicitas.soehner(at)uk-koeln.de

Hintergrund des Projekts

Eine erweiterte Perspektive auf das gesamte institutionelle Gefüge, in dem und durch das sexuelle Gewalt möglich ist, ist notwendig, um mögliche strukturelle Bedingungen sexueller Gewalt in Institutionen zu identifizieren und präventive Maßnahmen zu entwickeln. Davon ausgehend lag das Hauptziel des Projekts darin, die Struktur des Feldes "Missbrauch in Institutionen" und die möglichen strukturellen Bedingungen für sexuelle Gewalt in den (aktuellen) institutionellen Konstellationen und den Interaktionsbeziehungen zwischen den zentralen Akteuren zu identifizieren.
Zum einen sollte geklärt werden, warum im Kontext von sexuellem Missbrauch in Institutionen immer wieder Schwachstellen in der Operationalisierung des Kindeswohlkonzeptes evident werden. Zum anderen sollten Prozesse der Medikalisierung und Demedikalisierung sowie der Juridifizierung und der Pädagogisierung auf ihre Rolle als Schlüsselkonzepte analysiert werden.

Fragestellung

Welche Grundbegrifflichkeit des Kinderschutzes könnte zur Etablierung einer „Kultur des Hinsehens“ in den Debatten um sexuelle Gewalt in pädagogischen Institutionen beitragen?

Welche Voraussetzungen und Kontexte könnten sexuellen Missbrauch in pädagogischen Einrichtungen begünstigen und/oder seine Aufdeckung erschweren?

Wie sollte eine „Kultur des Hinsehens“ gefördert und damit ein Beitrag zum verantwortlichen Umgang mit der Thematik sexuellen Missbrauchs sowie zur Prävention geleistet werden?

Welchen Unterstützungs- und Weiterbildungsbedarf in diesem Zusammenhang gibt es bei den Einrichtungen?

Welche Kindeswohlkonzepte in Bezug auf ihre (Handlungs-)Relevanz im Zusammenhang mit Fragen des sexuellen Missbrauchs gibt es bei den beteiligten Einrichtungen?

Studie

Die im Verbundprojekt verfolgten Fragestellungen wurden sowohl innerhalb der beteiligten Disziplinen als auch Disziplinen übergreifend bearbeitet. Um das Erreichen der vorgesehenen Ziele im Rahmen eines Arbeitsplanes zu strukturieren, wurde die Arbeit des Projektes in sechs Teilprojekte (TP) unterteilt:

TP 1: Kinder- und Jugend
TP 2: Philosophie
TP 3: Medizingeschichte, Medien- und Rechtsanalyse
TP 4: Soziologie
TP 5: Pädagogik
TP 6: Koordination

Die Teilprojekte arbeiteten mit Internaten und stationären Jugendhilfeeinrichtungen in Bayern und Baden-Württemberg zusammen. In Verknüpfung von Forschung und Praxis wurden im Rahmen von unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Befragungen themenzentrierte Gespräche mit Einrichtungsleiter_innen, Mitarbeiter_innen, Eltern und Heranwachsenden geführt.

Das methodische Vorgehen stützte sich vor allem auf:

  • Problemzentrierte Interviews mit den EinrichtungsleiterInnen sowie Elternbeiräten.
  • Interviews und Gruppendiskussionen mit pädagogischen Mitarbeiter_innen der Einrichtungen.
  • Gruppendiskussionen mit Jugendlichen in den Einrichtungen.

Ausgewählte Ergebnisse

  • Für die beteiligten Institutionen wurden wichtige Bausteine (z.B. Praxisleitfaden, Screeningverfahren und Fortbildungsmodul zur Gefahrenabschätzung und Erhöhung der Handlungssicherheit) im Sinne einer „Kultur des Hinsehens“ erarbeitet, die sexuellem Missbrauch vorbeugen sollen.
  • Die im Projektverbund vertretenen wissenschaftlichen Disziplinen erhielten durch  Einsatz eines qualitativen, explorativen Forschungsansatzes wichtige konzeptionelle und methodische Anregungen zur Erforschung und Reflexion einer bisher weitgehend vernachlässigten Problematik.
  • Für Politik und gesellschaftliche Öffentlichkeit können langfristig wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die Hintergründe von sexuellem Missbrauch und geeignete Reaktionsmöglichkeiten bereitgestellt werden.
  • Die Ergebnisse des Projektes konnten im Rahmen der akademischen Nutzung (durch den Druck einer Monographie aber auch durch Publikation durch die Projektteilnehmer in Fachjournalen) an die nationale und internationale Diskussion zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Dimensionen des Kinderschutzes allgemein und des Kinderschutzes im Rahmen pädagogischer Institutionen anschließen.
  • Die Interdisziplinarität des Projektes ermöglichte eine fachinterne Rezeption durch Medizinethiker_innen und -historiker_innen, Jurist_innen, Psychiater_innen, Philosoph_innen, Soziolog_innen etc., und erreichte damit ein Disziplingrenzen überschreitendes internationales Fachpublikum.
  • Durch die Kooperation konnte sich zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projektes ein wissenschaftliches Netzwerk etablieren, das dem wissenschaftlichen Nachwuchs der beteiligten Disziplinen eine Plattform für weitere Kooperationen bieten wird. 

Praxisbezug

In Zusammenarbeit mit den pädagogischen Fachkräften aus acht Internaten und vier stationären Jugendhilfeeinrichtungen wurde, bestmöglich abgestimmt auf den Praxisbedarf, ein Fortbildungscurriculum mit Modulstruktur entwickelt. Ziel der Fortbildungsmodule ist es, die aus den Interviews und Gruppendiskussionen erarbeiteten Inhalte möglichst bedarfsgerecht und individuell für jede einzelne Einrichtung anzubieten.

Publikationen

Veröffentlicht:

Bagattini, Alexander (2015): Kindeswohl im Konflikt – Kindliches Wohlergehen im Recht, in der Medizin und in der Bildungswissenschaft. In: Maring, M. (Hrsg.): Interdisziplinäre Perspektiven in der angewandten Ethik. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing. S. 257-277.

Fangerau, Heiner; Bagattini, Alexander; Fegert, Jörg M.; Tippelt, Rudolf; Viehöver, Willy; Ziegenhain, Ute (2017): Präventive Strategien zur Verhinderung sexuellen Missbrauchs in pädagogischen Einrichtungen. Kindeswohl als kollektives Orientierungsmuster? Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Görgen, Arno; Griemmert, Maria; Keßler, Sebastian (2015): Sexueller Missbrauch und Kinderschutz: Perspektiven im Wandel. In: Fegert, Jörg M.; Hoffmann, Ulrike; König, Elisa; Niehues, Johanna; Liebhardt, Hubert (Hrsg.): Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen: Ein Handbuch zur Prävention und Intervention für Fachkräfte im medizinischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Bereich. Heidelberg: Springer. S. 27-40.

Görgen, Arno; Griemmert, Maria; Fangerau, Heiner (2013): Kindheit und Trauma. Medikalisierung und Skandalisierung im Umgang mit der Gewalt gegen Kinder. In: Trauma & Gewalt. Heft 3/13. S. 218ff.

Görgen, Arno; Kessler, Sebastian (2013): Der Einfluss von wissenschaftlichen, medialen und politischen Präventionskonjunkturen auf die Frühen Hilfen. In: Prävention 01/2013. S. 10-14.

In Vorbereitung:

Kadera, Stepanka, Fuchs, Christina; Tippelt, Rudolf: Sexualisierte Gewalt: Praktische Anforderungen an pädagogische Mitarbeiter/-innen und an Fortbildungen. In Retkowski, Alexandra; Treibel, Angelika; Tuider Elisabeth (Hrsg.): Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Arbeit. Theorie, Forschung, Praxis. Weinheim: Beltz-Juventa. In Arbeit.

Söhner, Felicitas; Fangerau, Heiner: Medizinhistorische Perspektive auf die Wandlung des Verständnisses sexualisierter Gewalt im 20. Jahrhundert. In: Retkowski, Alexandra; Treibel, Angelika; Tuider, Elisabeth: Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Arbeit. Theorie, Forschung, Praxis. Weinheim: Beltz-Juventa. In Arbeit.

Söhner, Felicitas; Fangerau Heiner: Gesundheitswissenschaftliche Perspektive auf das Verständnis sexualisierter Gewalt seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert. In: Retkowski, Alexandra; Treibel, Angelika; Tuider, Elisabeth: Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Arbeit. Theorie, Forschung, Praxis. Weinheim: Beltz Juventa. In Arbeit.