Niginabonu Isamukhamedova (23) und Dortje Gomer (86)© L. Gehde

Pro­jekt "Woh­nen für Hilfe": Eine in­ter­na­tio­na­le Jung-Alt-WG in Schwen­ti­nen­tal

von Leon Gehde

Das vom Deut­schen Stu­den­ten­werk ins Leben ge­ru­fe­ne Pro­jekt „Woh­nen für Hilfe“ ver­mit­telt meist jun­gen Men­schen güns­ti­gen Wohn­raum bei meist äl­te­ren Men­schen. Die er­hal­ten als Ge­gen­leis­tung nicht nur eine hel­fen­de Hand im Haus­halt, son­dern auch Ge­sell­schaft. Seit 2012 be­treibt das Stu­den­ten­werk Schles­wig-Hol­stein das Pro­gramm auch in un­se­rem Bun­des­land. Seit­dem wur­den im Raum Kiel ei­ni­ge Hun­dert Wohn­ge­mein­schaf­ten ge­schlos­sen. Dort­je Gomer (86) aus Schwen­ti­nen­tal ist seit Pro­jekt­start vor neun Jah­ren dabei. Ge­wohnt haben bei ihr schon Men­schen aus aller Welt, sagt sie und freut sich auch heute noch über ihre Mit­be­woh­ner*innen.

Seit dem 1. Juli 2021 lebt Ni­gi­n­a­bo­nu Isa­muk­ha­me­do­va (23) aus Russ­land bei der Dame. Im ers­ten Stock des klei­nen Ein­fa­mi­li­en­hau­ses hat sie „ein rie­sen­gro­ßes Zim­mer mit Bal­kon“, schwärmt sie. Zah­len muss sie le­dig­lich 50€ für die Ne­ben­kos­ten. 2017 kam sie nach Deutsch­land als Au-Pair und hat Deutsch ge­lernt. Und das für den kur­zen Auf­ent­halt „schon rich­tig gut“, er­kennt Gomer an. Damit sie in Deutsch­land eine Hoch­schul­zu­gangs­be­rech­ti­gung er­hält, hat sie er­folg­reich die zwei Se­mes­ter des Stu­di­en­kol­legs der Fach­hoch­schu­le Kiel ab­sol­viert. Nun stu­diert sie ab dem kom­men­den Se­mes­ter Me­di­en­in­ge­nieu­rin an der FH Kiel. „Rich­tig prak­tisch, denn von Schwen­ti­nen­tal kann ich mit dem Fahr­rad dort hin­fah­ren“, sagt Isa­muk­ha­me­do­va.

Auch Gomer war als junge Frau mal ein hal­bes Jahr als Au Pair in Eng­land. Die ge­lern­te Tex­til­fach­frau liest 2012 in den Kie­ler Nach­rich­ten von dem Pro­gramm des Stu­den­ten­werks. „Und da sagte meine liebe Toch­ter di­rekt zu mir: ‚Mutti, das ist doch was für dich‘“, er­in­nert sie sich. Da sie drei Kin­der hat, stan­den ge­nü­gend Zim­mer im obe­ren Teil ihres Hau­ses zur Ver­fü­gung. Es wurde im ers­ten Stock also zu­nächst re­no­viert und mo­dern mö­bliert. Als ers­tes zog ein jun­ger Mann aus Nepal ein. Seit­dem haben schon sie­ben un­ter­schied­li­che Men­schen bei ihr ge­wohnt. Sie kamen neben Nepal und Russ­land noch aus Deutsch­land, Ägyp­ten und dem Iran. „Ein Mäd­chen aus Bran­den­burg, die hier den Mas­ter ge­macht hat, kommt mich jetzt dem­nächst sogar noch­mal be­su­chen“, sagt Gomer vol­ler Vor­freu­de.

Isa­muk­ha­me­do­va wurde durch ihren Onkel und des­sen Frau auf das Pro­jekt auf­merk­sam ge­macht. Der Onkel hat wäh­rend sei­nes Stu­di­ums in Mün­chen bei einem äl­te­ren Herrn ge­wohnt. „Spä­ter durf­te auch seine Frau dort ein­zie­hen, und sie durf­ten sogar blei­ben, als die bei­den Kin­der be­kom­men haben“, er­in­nert sich Isa­muk­ha­me­do­va. Sie habe ihren Onkel da­mals auch be­sucht. „Die sind als rich­ti­ge Fa­mi­lie zu­sam­men­ge­wach­sen.“ Der deut­sche Herr wurde sogar „Papi“ ge­nannt und sei sehr froh über die Ge­sell­schaft ge­we­sen, zumal seine ei­ge­nen Kin­der ihn kaum noch be­sucht hät­ten. Die ge­bür­ti­ge Us­be­kin mit rus­si­scher Staats­bür­ger­schaft ist immer noch be­ein­druckt von der ent­stan­de­nen Nähe. Dass äl­te­re Men­schen in Deutsch­land von ihren Nach­kom­men oft al­lein ge­las­sen wer­den, wun­dert sie.

Ei­ni­ge Be­den­ken habe sie dem Pro­gramm ge­gen­über zu­nächst ge­habt. „Ei­ni­ge Fa­mi­li­en nut­zen Au Pairs aus, um sich zum Bei­spiel eine Ba­by­sit­te­rin zu spa­ren. Die dür­fen dann das Haus kaum ver­las­sen“, er­läu­tert sie. Freun­din­nen von ihr sei das pas­siert. Des­halb war es ihr wich­tig, eine zu­künf­ti­ge ‚Mit­be­woh­ne­rin‘ vor­her ken­nen­zu­ler­nen, um sich über die je­wei­li­gen Vor­stel­lun­gen des Zu­sam­men­le­bens aus­zu­tau­schen. „Hier hatte ich das Ge­fühl, dass alles sehr gut passt, und so bin ich hier ein­ge­zo­gen“, sagt sie lä­chelnd. Da sie aber erst seit Juli bei Gomer ist, müsse man sich erst auf­ein­an­der ein­le­ben und dann schau­en, wie man sich er­gän­zen kann.

Auf dem Flyer des Pro­jekts steht die Faust­re­gel, dass die ein­zie­hen­de Per­son der gast­ge­ben­den pro zur Ver­fü­gung ge­stell­tem Qua­drat­me­ter Wohn­flä­che jeden eine Stun­de Hilfe leis­ten soll­te. Isa­muk­ha­me­do­va kann 25 Qua­drat­me­ter ihr Eigen nen­nen. Die bei­den la­chen. „Wir ste­hen nicht mit dem Stift hin­ter ihr und schrei­ben Stun­den auf“, sagt Gomer. „Sowas haben wir nicht ab­ge­spro­chen“, fügt Isa­muk­ha­me­do­va hinzu. „Es geht eher darum, dass Dort­je abends nicht al­lein ist und sie das Ge­fühl hat, immer je­man­den da zu haben.“

Isa­muk­ha­me­do­va ist oft um­ge­zo­gen. Nun will sie in Ruhe ihren Ba­che­lor ma­chen. „Es ist nicht immer leicht, wenn man aus dem Aus­land kommt und hier stu­die­ren will.“ Auch die fi­nan­zi­el­len Kos­ten seien hoch. Einen Ab­schluss zu schaf­fen, würde sie be­ru­hi­gen. „Ich hoffe, end­lich mal ir­gend­wo rich­tig an­zu­kom­men und bis zum Ende mei­nes Stu­di­ums hier woh­nen blei­ben zu kön­nen“, sagt die bal­di­ge Me­di­en­in­ge­nieur-Stu­den­tin. „Wenn ich denn so lange noch lebe“, wirft Gomer amü­siert ein. „Ich will ja 100 wer­den.“ Be­son­ders freut sich Isa­muk­ha­me­do­va auch dar­über, dass ihr ers­tes Se­mes­ter in Prä­senz statt­fin­den kann, so­dass sie ihre Kom­mi­li­ton*innen „in echt“ tref­fen kann.

Über die Auf­nah­me jun­ger Men­schen aus der gan­zen Welt freut Gomer sich ganz be­son­ders und sieht darin sogar einen tie­fe­ren Sinn. Ge­bo­ren wurde sie 1934 in Al­to­na und hat ihre Kind­heit in Blan­ke­ne­se ver­bracht. Das habe bei Luft­an­grif­fen auf das Ham­bur­ger Zen­trum in der Ein­flug­schnei­se der Eng­län­der ge­le­gen. „Man sah die Bom­ber über uns hin­weg­flie­gen, und im Osten ent­stand eine graue Wand“, be­schreibt sie be­trof­fen die Rauch­schwa­den der bren­nen­den Me­tro­po­le. „So ein Krieg kann wie­der pas­sie­ren“, mahnt sie ernst und freut sich, mit ihrem Tun einen Teil zur Völ­ker­ver­stän­di­gung bei­zu­tra­gen.

© Fach­hoch­schu­le Kiel