Professionsethik. Sexualität und Macht in Schule und Sozialer Arbeit

Juniorprofessur

Projektdaten

Laufzeit
Oktober 2013 - Oktober 2019

Projektverantwortliche
Prof. Dr. Elisabeth Tuider, Universität Kassel
Juniorprofessur: Jun.-Prof. Dr. Alexandra Retkowski

Kontakt
alexandra.retkowski(at)uni-kassel.de

Hintergrund des Projekts

In allen pädagogischen Feldern des Bildungs- und Sozialsystems erfordert der Umgang mit Sexualität und Macht eine hohe Reflexions- und Handlungskompetenz der professionell tätigen Personen. Daher müssen Strukturen professionsethischer Reflexivität sowohl im Berufsalltag der einzelnen pädagogisch Tätigen wie auch auf organisationaler Ebene implementiert werden.

Die Kasseler Juniorprofessur „Professionsethik. Sexualität und Macht in Schule und Sozialer Arbeit“ zielt auf die nachhaltige Etablierung professionsethischer Fragestellungen sowohl in der fachwissenschaftlichen Diskussion als auch in der Hochschullehre und in praxisbezogenen Fortbildungsprogrammen. Das Forschungsprojekt „Berufsbiographische Identitätskonstruktionen und Sexualität“ (2013-2016), das im Rahmen des Forschungsauftrags der Juniorprofessur durchgeführt wurde, ging deshalb den berufsbiographischen Bearbeitungsstrategien und Reflexionsmustern von Lehrkräften und Sozialpädagog_innen im Hinblick auf Sexualität und Macht nach. Die Folgeuntersuchung „KoSeNDis: Kollektiver Umgang mit Sexualität, Nähe und Distanz in Schule und Sozialer Arbeit" (2016-2019) fokussiert nun den kollektiv und organisationell gerahmten Umgang mit Sexualität, Nähe und Distanz in Schule und Sozialer Arbeit.

Fragestellung

Wie werden Fälle sexualisierter Gewalt von Pädagog_innen in Schulen/Sozialer Arbeit berufsbiographisch verarbeitet?

Welche Schlüsselsituationen im professionellen Umgang mit Nähe und Distanz lassen sich identifizieren?

Wie werden Grenzüberschreitungen in Bezug auf Sexualität, Nähe und Distanz in den Teams bearbeitet?

Welche kollektiven Orientierungen und sozialen Dynamiken sind dabei feststellbar?

Wie werden institutionelle Rahmenrichtlinien und organisationale Vorgaben thematisiert?

Welche individuellen und kollektiven ethischen Orientierungshorizonte sind in Bezug auf die Bedeutung von Sexualität und Macht vorfindbar?

Studie

Im Alltag von pädagogischen Organisationen kommt es immer wieder zu Situationen, in denen das Verhältnis von Nähe und Distanz sowie Umgangsweisen mit Sexualität in den Vordergrund rücken. Einerseits erfahren Lehrer_innen und Sozialpädagog_innen auf unterschiedliche Weise, dass Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen, körperliche und emotionale Veränderungen erleben und Nähe zu den Pädagog_innen suchen. Andererseits sind die  Fachkräfte in ihrem Berufsalltag  aufgefordert, zwischen ihrem pädagogischen Auftrag und ihren persönlichen Eindrücken eine Balance zu finden und professionell zu handeln.

Zur Untersuchung des Umgangs mit Sexualität, Nähe und Distanz, den beruflichen Erfahrungen und den handlungsleitenden Orientierungen der pädagogischen Fachkräfte werden zunächst Gruppendiskussionen mit Lehrer_innen, Schulsozialpädagog_innen und pädagogischen Fachkräften geführt. Themen sind u.a. das Nähe-Distanz-Verhältnis in pädagogischen Generationenbeziehungen sowie Praktiken des Aufbaus und Erhalts von Generationenschranken, Einschätzungen zur Relevanz sowie dem Umgang mit alltäglichen Sexualisierungen oder der Umgang mit sexualisierten Grenzüberschreitungen durch Pädagog_innen gegenüber Kindern und Jugendlichen. Die Gruppendiskussionen werden anschließend im Hinblick auf kollektive Erfahrungen sowie Deutungs- und Begründungsmuster analysiert und kollektive Orientierungsmuster, die stets auch organisational verankert sind und implizite wie explizite Handlungsmaximen in Bezug auf Sexualität, Nähe und Distanz beinhalten, rekonstruiert.

Ausgewählte Ergebnisse

Zentrale Ergebnisse der Vorgängerstudie „Berufsbiographische Identitätskonstruktionen und Sexualität“ lassen sich wie folgt verdichten:

 

  •  Für die Phase der Berufseinmündung zeigen sich fragile Selbstentwürfe der Pädagog_innen im Umgang mit Sexualität. Dies deutet darauf hin, dass pädagogische Nähe- und Distanzverhältnisse besonders intensiv erlebt werden und darüber der eigene Umgang mit dem Verhältnis von rollenförmigen und diffusen Elementen des beruflichen Handelns erlernt wird. Gleichwohl zeigen sich unterschiedliche Möglichkeiten, persönliche Verstrickungsdimensionen reflexiv zu bearbeiten und in professionelle Handlungsentwürfe einfließen zu lassen. Persönliche Verstrickung in den pädagogischen Beziehungen zu den Klient_innen bzw. Schüler*innen können in allen Berufsphasen auftreten.
  • Die befragten Lehrer_innen und Sozialpädagog_innen berichten von diffusen und/oder sexualisierten Handlungen von kindlicher oder jugendlicher Seite ihnen gegenüber. In den Erzählungen berichten die Pädagog_innen in Reaktion darauf von Praktiken der Grenzziehung, bei denen sie sich selbst innerhalb von pädagogischen Generationenbeziehungen (d.h. einer Erwachsenen-Kind-Beziehung) oder innerhalb des beruflichen Rollenverhältnisses (d.h. Pädagog_in-Klient_in bzw. Schüler_in) positionieren. Dennoch erweisen sich diese Grenzziehungen stellenweise als brüchig, besonders dann, wenn für die pädagogische Beziehung die Dimension Geschlecht relevant wird.
  • Die Thematisierungsweisen kindlicher Sexualität und Vulnerabilität sind zwischen pädagogischen Fachkräften im Feld der frühkindlichen Bildung, Beratung und Erziehung äußerst heterogen. Dies spricht für eine starke Individualisierung des pädagogischen Umgangs mit kindlicher Sexualität innerhalb pädagogischer Handlungsfelder. Die Unsicherheit der pädagogischen Fachkräfte in Schule und Sozialer Arbeit scheint mit Abnahme der wahrgenommenen Generationendifferenz bzw. je mehr die Kinder und Jugendliche auch als sexuelle Akteure wahrgenommen werden zu steigen.
  •  Insgesamt erweisen sich die berufsbiographischen Erzählungen des pädagogischen Umgangs mit Sexualität und Macht selbst als machtvolle Konstruktionen, in denen die implizite und explizite Thematisierung von Sexualität fast ausschließlich in einem heterosexuellen Beziehungsraster erfolgt. Erfahrungen zu gleichgeschlechtlichen Erotisierungen werden nicht oder nur vereinzelt thematisiert.

An diese Befunde wird im Rahmen der KoSeNDis-Studie angeknüpft.

Praxisbezug

  • Das Potential der Sexualisierung einer pädagogischen Beziehung ist in allen Alters- und Berufsphasen gegeben ("Alter oder Berufserfahrung schützen vor Torheit nicht").
  • In der Berufseinstiegsphase sind geschützte Reflexionsräume äußerst bedeutsam und können nachhaltige Professionalisierungsprozese anstoßen.
  • Kinder und Jugendliche, die sich "erwachsen" verhalten, haben ein besonders hohes Irritationspotential, da sie etablierte Bilder über Generationenschranken scheinbar auflösen.

 

Publikationen

Veröffentlicht:

Retkowski, Alexandra; Treibel, Angelika, Tuider, Elisabeth (Hrsg.)(2018): Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Hess, Johanna; Retkowski, Alexandra; Wehrhahn, Dominik (2016): Küssen, Streicheln, Doktorspiele ... Konstruktionen kindlicher Sexualität als Herausforderung für pädagogische Disziplin und Profession. Forum Gemeindepsychologie, 1(6). S. 1-14.

Retkowski, Alexandra; Hess, Johanna; Hildebrand, Julia (2016): Wer umarmt schon die Sozialpädagogin? Berufsbiographisches Selbstverständnis weiblicher Sozialpädagoginnen im Umgang mit Sexualität. Sozial Extra (6).

Retkowski, Alexandra; Grosse, Martin; Hess, Johanna (2016): "Oh Gott, was mach ich denn damit" - Berufsbiographische Verarbeitungsweisen von Sexualität in der pädagogischen Praxis aus geschlechter- und professionstheoretischen Perspektive. In: Mahs, Claudia; Rendtorff, Barbara; Rieske, Thomas Viola (Hrsg.): Geschlecht - Erziehung - Sexualität. Opladen, Toronto & Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich. S. 171-188.