Ein Mann in schwarzem Jackett, steht vor einem Bild, auf dem ein Zitat gesschrieben steht.© J. Tresp

Das Pro­blem mit dem Eck­rent­ner

von Jana Tresp

Der Bun­des­tag war ihm zu wis­sen­schafts­fern, die Uni­ver­si­tät zu pra­xis­fern. Da kam die Pro­fes­sur für „So­zia­le Ar­beit und So­zia­le Hil­fen im Kon­text von Armut“ an der Fach­hoch­schu­le Kiel (FH Kiel) wie ge­ru­fen. Denn schlie­ß­lich steht hier das Thema im Mit­tel­punkt, mit dem sich Dr. Chris­ti­an Brütt schon seit Jah­ren be­schäf­tigt: Armut. An der FH möch­te der Po­li­tik­wis­sen­schaft­ler seine Stu­die­ren­den für die­ses Pro­blem sen­si­bi­li­sie­ren. Seit dem 1. Mai 2013 lehrt er hier am Fach­be­reich So­zia­le Ar­beit und Ge­sund­heit.

Jana Tresp (JT): Wie wür­den Sie Laien Ihr Ar­beits­ge­biet er­klä­ren?

Chris­ti­an Brütt (CB): Die Pro­fes­sur heißt „So­zia­le Ar­beit und So­zia­le Hil­fen im Kon­text von Armut“ und be­fasst sich mit einem Kern­be­reich der So­zia­len Ar­beit. Im Zen­trum mei­ner Ar­beit ste­hen Ar­muts­dis­kur­se, z.B. wie über Armut nach­ge­dacht wird, wie Pro­ble­me de­fi­niert wer­den, wie Men­schen, die von Armut be­trof­fen sind, wahr­ge­nom­men wer­den – all das prägt die Aus­stat­tung, aber auch die Um­set­zung der So­zia­len Hilfe.

JT: Wie ist die mo­men­ta­ne Si­tua­ti­on in Deutsch­land in Bezug auf Armut?

CB: Die eine Seite denkt: Die Men­schen sind selbst schuld. Sie spre­chen nicht von einem ge­sell­schaft­li­chen Pro­blem, son­dern von in­di­vi­du­el­lem Fehl­ver­hal­ten. Die Men­schen seien also arm, weil sie etwas falsch ge­macht hät­ten. Die an­de­re Seite denkt: Die Men­schen be­kä­men zu viel Geld, je­den­falls mehr als sie durch einen Job er­hal­ten könn­ten. Und des­halb seien und blie­ben sie arm. Die Markt­ent­wick­lung wird dabei mehr oder we­ni­ger außer Acht ge­las­sen. Ob­jek­tiv ge­se­hen gibt es aber zu we­ni­ge Ar­beits­plät­ze für die Men­schen. Das kann gar nicht pas­sen. Ei­ni­ge könn­ten sich auf den Kopf stel­len, sie wür­den trotz­dem keine Ar­beit be­kom­men. Kurt Beck von der SPD sagte ein­mal zu einem Ar­beits­lo­sen: ‚Geh dich ra­sie­ren, dann fin­dest du auch eine Ar­beit‘. Das ist zy­nisch, denn es funk­tio­niert so lei­der nicht.

JT: Was be­deu­tet Armut hier­zu­lan­de?

CB: Bei der Armut in Deutsch­land un­ter­schei­den wir drei große The­men: Armut ohne Ar­beit, sprich bei Er­werbs­lo­sig­keit, in der Kind­heit oder weil Fa­mi­lie und Beruf nicht ver­ein­bar sind, Armut trotz Ar­beit, der Lohn reicht zum Leben nicht aus, und Armut nach der Ar­beit, die Al­ters­ar­mut. Wer heute nicht aus­rei­chend in die Ren­ten­kas­sen ein­zahlt, wird in ab­seh­ba­rer Zu­kunft al­ters­arm sein. Es gibt zwar noch die pri­va­te Al­ters­vor­sor­ge. Die ist aber be­kann­ter­ma­ßen kaum wirk­sam und ei­ni­ge Men­schen kön­nen sie sich schlicht nicht leis­ten, denn wer nichts hat, kann auch pri­vat nichts auf­bau­en. Das Pro­blem der Al­ters­ar­mut wird sich in Zu­kunft deut­lich ver­stär­ken.

JT: Hätte die Po­li­tik diese Ent­wick­lung ver­hin­dern kön­nen?

CB: Das hängt von der Wahr­neh­mung der Pro­ble­me ab. Die sah nach den so­ge­nann­ten Hartz-Re­for­men vor etwa zehn Jah­ren wie folgt aus: Die Men­schen brau­chen nur eine Er­werbs­tä­tig­keit, dann geht es ihnen gut. Da­mals ist ei­ni­ges ge­än­dert wor­den, weil klar war, dass in Zu­kunft immer mehr Men­schen arm wer­den. Was schützt vor Armut? Ar­beit. Also wurde ver­sucht, den Men­schen Ar­beit zu ver­schaf­fen. Was ver­hin­dert die Schaf­fung von Ar­beits­plät­zen? Die Kos­ten. Also, muss­ten diese ge­senkt wer­den. Der Nied­rig­lohn­sek­tor wurde aus­ge­baut. Da­durch stieg die Zahl der so­ge­nann­ten „Auf­sto­cker“*. Damit war ein Boom von Mi­ni­jobs und Leih­ar­beit ver­bun­den, der eine Brü­cke zu re­gu­lä­rer Ar­beit schaf­fen soll­te. Hat aber nicht ge­klappt. Das lag an der Pro­blem­wahr­neh­mung, die sich selbst­ver­ständ­lich auch nicht frei von In­ter­es­sen und Kon­flik­ten durch­ge­setzt hatte.

JT: Das heißt, ein Per­spek­tiv­wech­sel hätte diese die Ent­wick­lung be­ein­flus­sen kön­nen?

CB: Die Ge­sell­schaft hält wei­ter­hin daran fest, dass im Alter alles davon ab­hängt, was ich in mei­nem Er­werbs­le­ben ge­macht habe. Das ist die Ren­ten­lo­gik. Es gibt eine Äqui­va­lenz zwi­schen Ein­zah­lung und Ren­te­n­er­trag. Wer wenig ein­ge­zahlt hat, be­kommt auch nur eine klei­ne Rente. Wer gar nichts ein­ge­zahlt hat, be­kommt gar nichts. Je mehr pre­kä­re oder ein­fach nur schlecht be­zahl­te Jobs es heute gibt, desto mehr Al­ters­ar­mut wer­den wir mor­gen haben. Nach wie vor ori­en­tiert sich die Rente am so­ge­nann­ten „Eck­rent­ner“, und der hat bei durch­schnitt­li­chem Ver­dienst 45 Jahre lang Bei­trä­ge ge­zahlt. Das trifft heute nur noch auf we­ni­ge zu. Frau­en, die Kin­der be­kom­men haben, kön­nen die­ses Ziel gar nicht er­rei­chen – die meis­ten Män­ner üb­ri­gens auch nicht und Ost­deut­sche schon gar nicht. Hinzu kommt, dass das Ren­ten­ni­veau ab­ge­senkt wor­den ist. Statt­des­sen hieß es, die Men­schen soll­ten sich pri­vat ver­si­chern. Dafür ist die Ries­ter­ren­te er­fun­den wor­den. In­zwi­schen ist klar, dass ka­pi­tal­ge­deck­te Sys­te­me kri­sen­an­fäl­lig sind. Au­ßer­dem nüt­zen diese steu­er­lich ge­för­der­ten Sys­te­me nur denen, die staat­li­che Hil­fen nicht so drin­gend bräuch­ten. Aber die Men­schen im Nied­rig­lohn­be­reich wer­den nie­mals die durch die Ren­ten­ab­sen­kung ent­stan­de­ne Lücke, durch eine pri­va­te Vor­sor­ge schlie­ßen kön­nen.

Es hätte an­ders lau­fen kön­nen. Es könn­te an­de­re Leis­tun­gen als die Er­werbs­ar­beit auf die Rente an­ge­rech­net wer­den. Das gibt es zum Teil schon in Form von Er­zie­hungs­leis­tun­gen – ak­tu­ell heiß dis­ku­tiert unter dem Schlag­wort „Müt­ter­ren­te“. Es könn­te na­tür­lich ge­nau­so gut „Vä­ter­ren­te“ hei­ßen. Ak­tu­ell sind dar­un­ter aber nur zwei Pro­zent Män­ner. Den­noch: Wer für die Er­zie­hung zu­stän­dig war, be­kommt drei Ent­gelt­punk­te an­ge­rech­net. Das ist aber nicht viel. Drei Er­zie­hungs­jah­re er­ge­ben mo­nat­lich etwa 84 Euro für West­deut­sche und 77 Euro für Ost­deut­sche. Ein Schutz vor Armut wäre das nicht. Denn auch damit wür­den Viele noch nicht ein­mal das Grund­si­che­rungs­ni­veau von der­zeit 707 Euro er­rei­chen. Für an­de­re wäre es bes­ser als nichts. Bei Frau­en liegt die durch­schnitt­li­che Rente bei 600 Euro, also deut­lich unter dem Grund­si­che­rungs­ni­veau. Da ma­chen 84 Euro schon etwas aus. Bei der ak­tu­el­len De­bat­te um die so ge­nann­te „Müt­ter­ren­te“ geht es üb­ri­gens nur darum, dass auch die El­tern, deren Kin­der vor 1992 ge­bo­ren wur­den, statt des einen ge­nau­so drei Ent­gelt­punk­te er­hal­ten. Also statt nur 28 auch 84 Euro mo­nat­li­che Rente für die Kin­der­er­zie­hung er­hal­ten.

In die Ren­ten­kas­se zah­len nur be­stimm­te An­ge­stell­te, die so­zi­al­ver­si­che­rungs­pflich­tig Be­schäf­tig­ten, ein. Selbst­stän­di­ge kön­nen, aber die Meis­ten von ihnen müs­sen nicht in die Ren­ten­kas­se ein­zah­len; Be­am­tin­nen und Be­am­te zah­len nichts. Das müss­te ge­än­dert wer­den. Aber Al­ters­ar­mut würde auch damit nicht ver­hin­dert wer­den. Sinn­vol­ler wäre es, eine Min­dest­si­che­rung im Alter zu haben, die wirk­lich vor Armut schützt. Die ak­tu­el­le Grund­si­che­rung tut dies eben nicht.

JT: Was möch­ten Sie Ihren Stu­die­ren­den ver­mit­teln?

CB: Die Ge­sell­schaft prägt die Wahr­neh­mung von Armut. Also auch die Wahr­neh­mung und damit das Han­deln der Fach­kräf­te in der So­zia­len Ar­beit. Dar­über müs­sen sich Men­schen, die in der So­zia­len Ar­beit tätig sind, be­wusst sein. Daher möch­te ich den Stu­die­ren­den vor allem ver­mit­teln, dass sie das immer wie­der re­flek­tie­ren müs­sen. Alle soll­ten re­gel­mä­ßig über­prü­fen, ob ihre Wahr­neh­mung auf gut durch­dach­ten Ur­tei­len oder ein­ge­schli­che­nen Vor­ur­tei­len be­ruht. Wenn ich über Armut rede, muss ich das ge­sam­te Sys­tem der so­zia­len Si­che­rung ken­nen. Im So­zi­al­staat geht es immer auch um Po­li­tik. In der Po­li­tik geht es um In­ter­es­sen, Kon­flik­te, Macht. Wenn die Stu­die­ren­den ohne die­ses Hin­ter­grund­wis­sen an das Thema Armut her­an­ge­hen, sind sie im bes­ten Fall naiv. Im schlimms­ten Fall miss­ach­ten sie ihre ei­ge­nen pro­fes­sio­nel­len Stan­dards und ver­sto­ßen gegen ihre Be­rufs­ethik.

*Auf­sto­cker ist der um­gangs­sprach­li­che Aus­druck für Per­so­nen, die ihr ge­rin­ges Ein­kom­men mit fi­nan­zi­el­len Leis­tun­gen vom Job­cen­ter er­hal­ten. Die Ar­beits­markt­sta­tis­tik spricht of­fi­zi­ell von „er­werbs­tä­ti­gen Ar­beits­lo­sen­geld-II Be­zie­hern“. Der Sprach­ge­brauch ist un­ein­heit­lich.

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