Ein Mann© J.Kö­nigs

Eine neue Hei­mat: „In Kiel bin ich jetzt zu­hau­se“

von Julia Kö­nigs

Er ach­tet dar­auf, sich sorg­fäl­tig zu klei­den, ein ge­bü­gel­tes Hemd steht außer Frage; die dunk­le Bril­le sitzt ge­ra­de. Mehr noch als auf sein Äu­ße­res und seine Ma­nie­ren, ist Fadel Fad­lal­lah auf seine Spra­che be­dacht. Sein Hoch­deutsch ist sehr gut, die Worte  sind wohl ge­wählt. Vor sechs­ein­halb Jah­ren konn­te er kei­nen deut­schen Satz bil­den — konn­te wich­ti­ge Brie­fe nicht lesen, die Schrei­ben der Be­hör­den nicht be­ant­wor­ten. Er schäm­te sich, zum Arzt zu gehen. „Ich konn­te ja nicht be­schrei­ben, was mir fehlt. Wenn du krank bist und in die­ser Si­tua­ti­on steckst, ist das hart“, sagt der 30-Jäh­ri­ge.

Heute zeigt er nicht nur sein of­fi­zi­el­les Ab­schluss­zeug­nis des zwei­jäh­ri­gen Deutsch­kur­ses vor, son­dern auch einen sehr guten Ba­che­lor­ab­schluss in Wirt­schafts­in­for­ma­tik von der FH Kiel.

Der ge­bo­re­ne Syrer lebt seit 2013 in Deutsch­land. Zwei Jahre, nach­dem der Bür­ger­krieg in Sy­ri­en aus­bricht, flieht er al­lei­ne aus sei­ner Ge­burts­stadt Alep­po bis nach Kiel, ohne Sprach­kennt­nis­se, ohne die Si­cher­heit, an sei­nem Ziel Frie­den oder of­fe­ne Arme zu fin­den.

An­kom­men in Deutsch­land: Eine harte Probe 

Flucht­rou­te, Asyl­an­trag, Auf­ent­halts­sta­tus — der da­mals 24-Jäh­ri­ge über­steht die bü­ro­kra­ti­sche, men­ta­le und emo­tio­na­le Odys­see tap­fer.

Wenn Fadel an die Näch­te zu­rück­denkt, die er in den dar­auf­fol­gen­den Jah­ren ar­bei­tend am Schreib­tisch ver­brach­te, um seine Vor­le­sun­gen Wort für Wort nach­zu­ar­bei­ten, Texte immer wie­der zu lesen oder für die Prü­fun­gen zu pau­ken, lacht er, viel­leicht ein biss­chen er­schöpft.

„Jetzt, wo ich einen fes­ten Job habe, kann ich guten Ge­wis­sens pünkt­lich um 5 Uhr Fei­er­abend ma­chen und habe am Wo­chen­en­de Zeit für mich“, sagt er. Vor­bei sind Prü­fungs­pha­sen, Nach­ar­bei­ten und die Sorge um den Ab­schluss — hätte er seine Kraft nicht auf das Ler­nen für Spra­che und Fach­stu­di­um ver­wen­det, hätte er es viel­leicht nicht ge­schafft.

Ein Leben vor dem Krieg

Vor dem dem Krieg und dem Re­gime As­sads lebte Fadel das ganz nor­ma­le Leben eines jun­gen Man­nes mit gro­ßen Träu­men: Er woll­te stu­die­ren, wenn mög­lich auch ein­mal im Aus­land, seine Kennt­nis­se im Pro­gram­mie­ren ver­tie­fen, eine neue Spra­che ler­nen, sich mit frem­den Kul­tu­ren aus­ein­an­der­set­zen. Das Rei­sen ist in sei­ner Fa­mi­lie be­liebt, seine Onkel leben und ar­bei­ten in Li­by­en, in Frank­reich, in den USA, eine Schwes­ter in der Tür­kei.

„Sie haben mir oft Ge­schen­ke aus ihren neuen Hei­mat­län­dern mit­ge­bracht und viel er­zählt“, er­in­nert sich Fadel. Der Kriegs­aus­bruch 2011 zwang ihn nach dem Schul­ab­schluss dazu, rasch zu han­deln. „Es war für mich zu spät, meine Zu­kunft in Alep­po auf­zu­bau­en.“

Stu­die­ren in Deutsch­land: Als Ge­flüch­te­ter nicht selbst­ver­ständ­lich 

Er ist froh, dass ihm als Ge­flüch­te­ten ein Stu­di­um in Deutsch­land mög­lich war: Für viele Stu­die­ren­de ist der Bil­dungs­weg in den Auf­nah­me­län­dern wie Deutsch­land nicht klar ge­re­gelt. So hat nach Aus­kunft der UNO-Flücht­lings­hil­fe nur rund ein Pro­zent der ge­flüch­te­ten Kin­der die Mög­lich­keit, über­haupt zu stu­die­ren. Fadel  da­ge­gen konn­te sich sein sy­ri­sches Ab­itur­zeug­nis über den in­ter­na­tio­na­len Hoch­schul­ver­ein Uni As­sist e.V. an­er­ken­nen las­sen. Trotz sei­ner be­son­de­ren Lage blie­ben ihm so­wohl ein Sti­pen­di­um als auch der BAföG-Zu­schuss ver­wehrt. „Da­mals waren die Re­ge­lun­gen für Ge­flüch­te­te noch nicht so aus­ge­feilt wie heute“, weiß er.

Um sich fi­nan­zi­ell selbst über Was­ser zu hal­ten, nahm er einen stu­den­ti­schen Job beim In­sti­tut für Welt­wirt­schaft an.

Nach drei Stu­di­en­halb­jah­ren im Stu­di­en­gang Me­cha­tro­nik, der sich als fal­sche Wahl her­aus­stell­te, wech­sel­te Fadel in die Wirt­schafts­in­for­ma­tik.

„Der Fach­wech­sel war vom ers­ten Tag an die rich­ti­ge Ent­schei­dung“, so der Ab­sol­vent. „Na­tür­lich, es gab für mich auch schwe­re Mo­du­le wie All­ge­mei­ne Be­triebs­wirt­schafts­leh­re oder sol­che mit da­mals noch kom­pli­zier­tem Fach­vo­ka­bu­lar, aber ich habe mich mit har­ter Ar­beit darum be­müht, mit­zu­hal­ten.“ Ihm sei immer be­wusst ge­we­sen, dass die Leh­ren­den nicht nur für ihn oder an­de­re aus­län­di­sche Stu­die­ren­de eine Aus­nah­me ma­chen und lang­sa­mer spre­chen könn­ten. So ge­wöhn­te er sich nach und nach daran, Deutsch auch im schnel­len Tempo zu ver­ste­hen.

Fach­be­reich Wirt­schaft der FH Kiel: Freund­schaf­ten, die hal­ten

Die Un­ter­stüt­zung sei­ner Kom­mil­ton*innen am Fach­be­reich Wirt­schaft, die Of­fen­heit und das an­ge­neh­me Mit­ein­an­der mach­ten das Stu­di­um an der FH Kiel für den Ge­flüch­te­ten sehr schön: „Ich habe sehr viele nette Leute ken­nen­ge­lernt, mit denen ich auch jetzt noch be­freun­det bin, das ist toll“, be­rich­tet Fadel. Auch mit sei­nen Leh­ren­den sei er gut aus­ge­kom­men. Ins­be­son­de­re mit sei­nem da­ma­li­gen Do­zen­ten für das Rech­nungs­we­sen habe er sich auch pri­vat gut ver­stan­den. „Er hat sich für mei­nen Weg sehr in­ter­es­siert, mich von An­fang an un­ter­stützt und mir immer Hilfe an­ge­bo­ten“, so Fadel. „Er sagte zu mir, dass es nicht schlimm ist, Flücht­ling zu sein, Ein­stein war schlie­ß­lich auch ein Flücht­ling. Das gibt Mo­ti­va­ti­on, wei­ter­zu­ma­chen.“

Aus­zeich­nung mit dem REFA-Award für Fadel Fad­lal­lah

Es lohn­te sich: Beim Kie­ler Pro­zess­ma­nage­ment­fo­rum 2016, einer Ko­ope­ra­ti­ons­ver­an­stal­tung, an der neben der FH Kiel mit dem Fach­be­reich Wirt­schaft auch die Deut­sche Ge­sell­schaft für Pro­jekt­ma­nage­met, die Di­gi­ta­le Wirt­schaft S-H, die Ge­sell­schaft für In­for­ma­tik in Schles­wig-Hol­stein, der REFA-Re­gio­nal­ver­band Schles­wig-Hol­stein und das Lan­des­se­mi­nar Be­ruf­li­che Bil­dung am In­sti­tut für Qua­li­täts­ent­wick­lung an Schu­len Schles­wig-Hol­stein (IQSH) teil­nah­men, wurde Fadels Team mit dem REFA-Award aus­ge­zeich­net. Mit Blue Cross Safe­ly schu­fen die Stu­die­ren­den eine Idee, die Ver­kehrs­si­cher­heit zu ver­bes­sern: Ver­kehrs­teil­neh­mer*innen wer­den durch ein Licht­si­gnal an Am­peln vor na­hen­den Ret­tungs­fahr­zeu­gen ge­warnt.

Ba­che­lor­ab­schluss, Be­rufs­ein­stieg: Mit Ge­duld ans Ziel

Zum Som­mer­se­mes­ter 2016 schloss Fadel sein Ba­che­lor­stu­di­um er­folg­reich ab. Kaum eine*r sei­ner Kom­mi­li­ton*innen, die mit ihm star­te­ten, konn­ten die Re­gel­stu­di­en­zeit mit ihm ein­hal­ten. Dar­auf ist Fadel stolz: „Viele un­ter­schät­zen, wie schwer das Stu­di­um ist“, meint er. „Es geht darum, das abs­trak­te Fach­wis­sen mit dem Aus­wen­dig­ler­nen zu ver­bin­den. Man muss sich an­stren­gen. Und ich woll­te un­be­dingt ler­nen, das hat si­cher dazu bei­ge­tra­gen, dass ich es ge­schafft habe.“

Nach der Zeit an der FH folg­ten auf seine Be­wer­bun­gen in der IT-Wirt­schaft di­ver­se Ab­sa­gen. Dann mit der letz­ten Hoff­nung die Er­leich­te­rung: Seit zwei Mo­na­ten ar­bei­tet Fadel jetzt beim Soft­ware­ent­wick­ler b+m In­for­ma­tik, der sich um Pro­gram­mie­run­gen für Ban­ken küm­mert. Die Freu­de war groß: „Ich woll­te Kiel nicht ver­las­sen, hier habe ich Bin­dun­gen.“

Die Ar­beit bei b+m mache ihm gro­ßen Spaß. „In der IT herr­schen meist fla­che Hier­ar­chi­en, man ar­bei­tet in net­ten Teams, es herrscht kein un­an­ge­mes­se­ner Druck. Ich freue mich dar­auf, mit dem Un­ter­neh­men zu wach­sen.“

Eine neue Hei­mat in Kiel 

Fadel kann sein Leben jetzt ent­spann­ter an­ge­hen - und das Ge­fühl aus­kos­ten, in sei­ner neuen Hei­mat rich­tig an­ge­kom­men zu sein. Seit einem Jahr ist er of­fi­zi­ell deut­scher Staats­an­ge­hö­ri­ger, seit sechs Mo­na­ten be­sitzt er sei­nen deut­schen Pass. Im Fe­bru­ar be­such­te er seine äl­te­re Schwes­ter in der Tür­kei. Dass der Grenz­be­am­te ihm den Pass ohne Be­an­stan­dung zu­rück­gab und er wie­der nach Deutsch­land ein­rei­sen konn­te, bringt ihn noch immer zum Stau­nen. „Der Pass funk­tio­niert wirk­lich!“

An Alep­po denkt er trotz­dem manch­mal zu­rück. Mehr als drei Mil­lio­nen Men­schen haben Sy­ri­en bis­lang ver­las­sen müs­sen, Fadels ehe­ma­li­ge Hei­mat­stadt mit ihren Kunst­schät­zen, den kul­tur­his­to­ri­schen Bau­ten wie dem Basar und dem be­deu­ten­den Han­dels­zen­trum ist grö­ß­ten­teils zer­stört. Würde er jetzt je­doch zu­rück­keh­ren, würde er so­fort zum Mi­li­tär­dienst ver­pflich­tet wer­den; er müss­te in den Krieg zie­hen, denn in Sy­ri­en herrscht Wehr­pflicht im Bür­ger­krieg. Ein paar sei­ner Ver­wand­ten leben noch immer mit­ten im Kriegs­ge­biet, aber er kann den Kon­takt zu ihnen auf­recht hal­ten. Da­ge­gen ist er froh, dass seine El­tern und seine bei­den jüngs­ten Ge­schwis­ter bei ihm in Kiel leben. Seine Mut­ter und sein Vater haben es noch schwer mit der deut­schen Spra­che, wäh­rend sein Bru­der mit sei­nem an­er­kann­ten Haupt­schul­zeug­nis eine Aus­bil­dung zum KFZ-Me­cha­ni­ker ab­sol­vie­ren kann und seine Schwes­ter in der fünf­ten Klas­se ihrer Schu­le auf­blüht.

In Zu­kunft hat Fadel noch viel vor, lässt sich in­spi­rie­ren von sei­nem Idol Hany Azer, einem deut­schen Bau­in­ge­nieur ägyp­ti­scher Her­kunft: „Er hat in sei­nem Leben un­fass­bar viel ge­leis­tet, hat an sich ge­glaubt, sein Stu­di­um auch mal ge­wech­selt und hat immer wei­ter­ge­macht“, be­grün­det Fadel, der in nächs­ter Zeit gerne ein Haus kau­fen, eine Fa­mi­lie grün­den und Schles­wig-Hol­steins Küs­ten mit sei­nem neu er­lang­ten An­gel­schein er­kun­den möch­te.

Kiel habe Alep­po jetzt als Hei­mat ab­ge­löst, sagt Fadel. „Hier in Kiel bin ich Zu­hau­se.“

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