ein Mann© M. Pilch

„Einen kla­ren Kopf be­wah­ren“: Sta­tis­tik­kennt­nis­se im All­tag sind wich­ti­ger denn je!

von Prof. Dr. Ma­nu­el Ste­ge­mann

Am 20. Ok­to­ber ist Welt­sta­tis­tik­tag, und viele Men­schen wer­den sich die­ser Tage wohl zwangs­läu­fig mal wie­der mit sta­tis­ti­schen Daten be­fasst haben: Die Co­vi­d19-Pan­de­mie hält uns in Atem und wird dies (Ach­tung: Pro­gno­se) auch noch eine Weile tun. Im No­vem­ber ste­hen die US-Wah­len an, die die­ses Jahr auch in me­tho­di­scher Hin­sicht unter be­son­ders schwie­ri­gen Be­din­gun­gen statt­fin­den. Aber auch im All­tag sind wir fort­wäh­rend einer Flut von In­for­ma­tio­nen aus­ge­setzt, bei deren Be­ur­tei­lung ein so­li­des Grund­wis­sen der Sta­tis­tik oft hilf­reich ist. Die­ser Kurz­bei­trag soll - ganz ohne For­meln und Zah­len - ein Ge­dan­ken­an­stoß zur Re­le­vanz der Sta­tis­tik im All­tag sein.

Sta­tis­tik zu ver­ste­hen ist wich­ti­ger als Sta­tis­ti­ken er­rech­nen zu kön­nen

So kom­pli­ziert Sta­tis­tik vie­len Ler­nen­den auch vor­kom­men mag, die Kern­idee ist ein­fach: Sta­tis­tik ver­sucht aus einer in der Regel un­über­sicht­li­chen Da­ten­men­ge sinn­vol­le In­for­ma­tio­nen zu ex­tra­hie­ren, die dann für in­halt­li­che Schluss­fol­ge­run­gen ge­nutzt wer­den kön­nen. Im ein­fachs­ten und be­kann­tes­ten Fall ist das ein Mit­tel­wert für eine Va­ria­ble, zum Bei­spiel wenn Stu­die­ren­de ihren No­ten­durch­schnitt aus­rech­nen. Oft geht es aber auch um Pro­gno­sen sowie um Zu­sam­men­hän­ge und Wir­kungs­rich­tun­gen von meh­re­ren Va­ria­blen, also um Fra­ge­stel­lun­gen wie „Wel­che Fak­to­ren be­güns­ti­gen gute Noten an einer Hoch­schu­le?“.  

Ist es nun wich­tig, dass Men­schen in ihrem All­tag ei­ge­ne Sta­tis­ti­ken er­rech­nen kön­nen? Aus mei­ner Sicht ist das nicht nötig, und es würde un­se­ren All­tag ver­mut­lich nicht bes­ser ma­chen, wenn alle die For­mel für einen Kor­re­la­ti­ons­ko­ef­fi­zi­en­ten aus­wen­dig könn­ten. Viel wich­ti­ger als das Rech­nen wäre ein grund­le­gen­des Ver­ständ­nis für die In­ter­pre­ta­ti­on von Sta­tis­ti­ken und die dar­aus ab­ge­lei­te­ten Aus­sa­gen, die wir täg­lich im All­tag hören und lesen kön­nen.

Zah­len kön­nen leicht (und sogar aus Ver­se­hen) miss­braucht wer­den

Neu­lich las ich einen Zei­tungs­ar­ti­kel zu einer Stu­die, die aus­sag­te, dass Schü­ler*innen an Schu­len, an denen sie die Leh­ren­den Sie­zen müs­sen, bes­se­re Sprach­kennt­nis­se haben als Schü­ler*innen an Schu­len, an denen Leh­ren­de ge­duzt wer­den dür­fen. Die­ser sta­tis­ti­sche Zu­sam­men­hang wurde mit der Schluss­fol­ge­rung ver­se­hen, dass man zu­künf­tig lie­ber auf Sie­zen in Schu­len be­stehen solle, da dies die Sprach­kom­pe­ten­zen bes­ser aus­bil­de. Die In­ter­pre­ta­ti­on ist sehr kri­tisch zu sehen, da es viele an­de­re mög­li­che Er­klä­run­gen gibt, warum Schü­ler an „Siez-Schu­len“ bes­se­re Sprach­kennt­nis­se haben.

Per­so­nen mit sta­tis­ti­scher Grund­aus­bil­dung er­in­nern sich jetzt: Ein sta­tis­ti­scher Zu­sam­men­hang ist nicht immer ein in­halt­li­cher Zu­sam­men­hang und erst recht kein kau­sa­ler Zu­sam­men­hang. Diese Grund­re­gel ver­deut­licht auch die fal­sche Schluss­fol­ge­rung von Zeit­schrif­ten­ar­ti­keln aus dem Jahr 2013, dass Teil­zeit­jobs Män­ner krank ma­chen wür­den, weil bei Män­nern in Teil­zeit­an­stel­lung häu­fi­ger psy­chi­sche Pro­ble­me be­ob­ach­tet wur­den.

Diese Arten von Fehl­schlüs­sen aus Daten kom­men häu­fi­ger vor als man denkt. Hier zwei wei­te­re, reale Bei­spie­le: Soft­drinks ma­chen Schü­ler*innen an­geb­lich ag­gres­si­ver, da man her­aus­ge­fun­den hat, dass ag­gres­si­ve Schü­ler*innen mehr zu­cker­hal­ti­ge Soft­drinks mit in die Schu­le neh­men. Und schwan­ge­re Frau­en bauen an­geb­lich häu­fi­ger Au­to­un­fäl­le, weil sie in einem Kran­ken­haus bei der Be­hand­lung nach einem Au­to­un­fall über­re­prä­sen­tiert waren. In bei­den Fäl­len sind ganz an­de­re Ur­sa­chen für die ver­meint­lich ge­fun­de­nen Ef­fek­te ver­ant­wort­lich: Kin­der mit hohem Soft­drink­kon­sum in Schu­len un­ter­schei­den sich bei­spiels­wei­se auch im so­zio­öko­no­mi­schen Sta­tus der El­tern und vie­len wei­te­ren Fak­to­ren von an­de­ren Kin­dern. Schwan­ge­re Frau­en las­sen sich bei einem Au­to­un­fall viel wahr­schein­li­cher zur Si­cher­heit und aus Sorge um ihr Kind un­ter­su­chen und sind des­halb über­re­prä­sen­tiert im Kran­ken­haus. Bei letz­te­rem Bei­spiel liegt der Feh­ler also schon bei der ver­zerr­ten Er­he­bung der Daten. Unser Prä­si­dent Prof. Dr. Björn Chris­ten­sen hat Bü­cher und Ko­lum­nen dazu ver­fasst und Web­sites wie „Die Un­sta­tis­tik des Mo­nats“ klä­ren viele die­ser Bei­spie­le se­ri­ös sowie teils hu­mor­voll auf.

 

Wäh­rend die obi­gen Bei­spie­le eher ver­se­hent­li­che Fehl­in­ter­pre­ta­tio­nen von Sta­tis­ti­ken dar­stel­len, so kön­nen Sta­tis­ti­ken na­tür­lich auch be­wusst zur Mei­nungs­ma­che miss­braucht wer­den. Ty­pi­sche Merk­ma­le von fehl­lei­ten­den Sta­tis­ti­ken sind: zu we­ni­ge be­zie­hungs­wei­se nicht re­prä­sen­ta­ti­ve Daten, se­lek­ti­ve oder ver­zerr­te Daten als Grund­la­ge, keine Be­ach­tung al­ter­na­ti­ver Er­klä­run­gen für ge­fun­de­ne Ef­fek­te. Un­se­riö­se Mel­dun­gen las­sen sehr oft die wich­ti­gen In­for­ma­tio­nen ver­mis­sen, die man bräuch­te, um die Quel­le auf Glaub­wür­dig­keit zu über­prü­fen. Es soll­te immer klar sein, wer wann was mit wel­chem Ziel er­ho­ben hat.

Me­tho­den­kennt­nis­se als Con­tra zu Mei­nungs­ma­che und „Fake News“

Es gibt kein All­ge­mein­re­zept (nicht ein­mal eine Eins in Sta­tis­tik), um ir­re­füh­ren­den Nach­rich­ten si­cher auf die Schli­che zu kom­men. Sie hören sich oft auf den ers­ten Blick gut an und ver­ein­fa­chen die Welt auf an­ge­neh­me Weise. Und ge­ra­de in einem All­tag, der von me­dia­ler Über­flu­tung (mit wah­ren, halb­wah­ren und fal­schen In­for­ma­tio­nen) ge­prägt ist, mögen pla­ka­ti­ve Aus­sa­gen zur Scho­nung ge­dank­li­cher (ko­gni­ti­ver) Res­sour­cen be­son­ders reiz­voll sein.

Ich habe die Hoff­nung, dass Kennt­nis­se zu Me­tho­den und Sta­tis­ti­ken (in Kom­bi­na­ti­on mit Me­di­en­kom­pe­tenz) zu­min­dest dabei hel­fen, die Glaub­wür­dig­keit von Zah­len und Aus­sa­gen im All­tag bes­ser be­ur­tei­len zu kön­nen. Und wenn dies bei vie­len Men­schen im All­tag der Fall wäre, würde es viel­leicht auch die Ge­sell­schaft da­hin­ge­hend ver­än­dern, dass po­pu­lis­ti­sche, fak­tisch leicht zu wi­der­le­gen­de Aus­sa­gen we­ni­ger Gehör fin­den. Ein Bei­spiel: Wenn als „Be­weis­füh­rung“ zu den schäd­li­chen Fol­gen des 5G-Net­zes an­ge­führt wird, dass 5G in den glei­chen Re­gio­nen wie das Co­ro­na­vi­rus ver­brei­tet ist (und zwei ähn­lich aus­se­hen­de Heat­maps der USA dazu ge­zeigt wer­den), so soll­te man mit etwas me­tho­di­schem Grund­wis­sen leicht dar­auf kom­men, dass die­ses re­gio­nal gleich­för­mi­ge Auf­tre­ten wohl eher mit der Be­völ­ke­rungs­dich­te in den Bal­lungs­zen­tren zu tun hat. Glei­ches gilt üb­ri­gens für das re­gio­na­le Auf­tre­ten von Goog­le Street­view und Co­ro­na.

Mensch­li­che Ge­dan­ken­mus­ter durch Sta­tis­tik auf die Probe stel­len

Warum ist Sta­tis­tik also wich­tig für den All­tag? Weil sie uns lehrt, in Ten­den­zen und Wahr­schein­lich­kei­ten zu den­ken und dabei Feh­ler, Un­ge­nau­ig­kei­ten und al­ter­na­ti­ve Er­klä­run­gen in Be­tracht zu zie­hen, an­statt in Schwarz-Weiß-Ma­le­rei zu enden. An­ders ge­sagt: Weil sie, wenn sach­ge­mäß an­ge­wen­det, die Welt ein biss­chen bes­ser er­klärt. Mit Sta­tis­ti­ken kön­nen Vor­ur­tei­le und Mei­nungs­ma­che lei­der ge­schürt, aber glück­li­cher­wei­se auch ab­ge­baut wer­den. Und je mehr Men­schen sich mit den Grund­re­geln se­riö­ser Sta­tis­ti­ken und dar­aus ab­ge­lei­te­ten Schlüs­sen be­fas­sen, desto eher dürf­ten die po­si­ti­ven Ef­fek­te der Sta­tis­tik zum Tra­gen kom­men. Darum bin ich froh, dass es einen Welt­sta­tis­tik­tag gibt und ich die­ses Fach­ge­biet an­de­ren Men­schen nä­her­brin­gen darf.

Quel­len der ver­wen­de­ten Bei­spie­le sind auf An­fra­ge beim Autor er­hält­lich.

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