Ein Mann in weißem Hemd und blauer Weste, posiert vor einem bunten Bild für die Kamera.© FH Kiel

Un­ter­wegs zwi­schen den Wel­ten

von Jana Tresp

Pra­xis oder Wis­sen­schaft? Diese Frage stel­len sich viele an­ge­hen­de Psy­cho­lo­gin­nen und Psy­cho­lo­gen. An­ders Prof. Dr. Jo­seph Rich­ter-Ma­cken­stein – er be­schäf­tigt sich seit jeher mit bei­dem und zwar aus Über­zeu­gung. Dabei war sein Weg nicht immer ge­rad­li­nig. Das könn­te sich nun än­dern, denn er sieht Kiel als sei­nen zu­künf­ti­gen Le­bens­mit­tel­punkt und möch­te in der – wie er sagt „häss­li­chen Stadt mit schö­nen Ecken“ – alt wer­den. Seit dem 1. April 2013 ist er Pro­fes­sor für „Psy­cho­so­zia­le Dia­gnos­tik und Be­ra­tung“ am Fach­be­reich So­zia­le Ar­beit und Ge­sund­heit der Fach­hoch­schu­le Kiel (FH Kiel). Davor war er an der Uni­ver­si­tät Flens­burg tätig.

Jana Tresp (JT): Warum haben Sie Psy­cho­lo­gie stu­diert?

Jo­seph Rich­ter-Ma­cken­stein (JRM): Ich bin ein klas­si­scher Schul­ver­sa­ger, zwei­mal sit­zen­ge­blie­ben und habe eine mi­se­ra­ble mitt­le­re Reife ge­macht. Meine Fa­mi­lie und ich wohn­ten in der ehe­ma­li­gen DDR. Als die Wende kam, war ich zwölf; meine El­tern hat­ten sich ge­trennt. Ich hatte also schon einen klei­nen Ruck­sack zu tra­gen. Ich glau­be, daher kom­men meine Af­fi­ni­tät zu psy­cho­so­zia­len Ar­beits­fel­dern und der Wunsch, einen the­ra­peu­ti­schen Beruf zu er­grei­fen.

Ich habe zu­nächst eine grund­stän­di­ge Aus­bil­dung zum Mo­to­pä­den/Mo­to­the­ra­peu­ten ge­macht. Für mich war es ein Segen, an der Thü­rin­ger Fach­schu­le in Greiz über­haupt an­ge­nom­men zu wer­den, denn fast alle Aus­zu­bil­den­den hat­ten Ab­itur. Wäh­rend die­ser Aus­bil­dung habe ich Blut ge­leckt: Ich woll­te auf jeden Fall noch Psy­cho­lo­gie stu­die­ren. Über Um­we­ge holte ich mein Ab­itur nach und stu­dier­te zu­nächst So­zi­al­päd­ago­gik bis zum Vor­di­plom. Als ich an­schlie­ßend für Psy­cho­lo­gie an­ge­nom­men wurde, ging für mich ein Traum in Er­fül­lung.

JT: Kön­nen Sie kurz er­klä­ren, was Mo­to­pä­die ist?

JRM: Mo­to­pä­die wird in­ter­na­tio­nal auch Psy­cho­mo­to­rik ge­nannt. Ziel psy­cho­mo­to­ri­scher In­ter­ven­tio­nen ist es, über Be­we­gung die Per­sön­lich­keits­ent­wick­lung an­zu­re­gen, zu för­dern oder auch zu re­ha­bi­li­tie­ren.

JT: Ihr Schwer­punkt lag also zu­nächst auf der Pra­xis. Wann kam das In­ter­es­se an der Wis­sen­schaft dazu?

JRM: Ob­wohl ich frü­her nicht vor­hat­te in die Wis­sen­schaft zu gehen, war ich be­reits vor mei­nem Stu­di­um wis­sen­schaft­lich-kon­zep­tio­nell tätig und habe Ar­ti­kel ver­öf­fent­licht. Ich habe mich immer ein Stück weit als Wand­ler zwi­schen den Wel­ten ge­fühlt; ei­ner­seits als wis­sen­schafts­ori­en­tier­ter Prak­ti­ker, an­de­rer­seits als pra­xis­be­zo­ge­ner Wis­sen­schaft­ler. Für mich muss Wis­sen­schaft einen An­wen­dungs­be­zug haben. Ich habe in der Pra­xis die Er­fah­rung ge­macht, dass deren Qua­li­tät mit der Re­fle­xi­on über sie steht und fällt.

JT: Wie sind Sie an die FH Kiel ge­kom­men?

JRM: Ich bin in Dres­den ge­bo­ren, habe in Kas­sel So­zi­al­päd­ago­gik und in Gie­ßen Psy­cho­lo­gie stu­diert und schlie­ß­lich in Han­no­ver pro­mo­viert. In den Nor­den zog es mich, weil ich mit Freun­den ein the­ra­peu­ti­sches In­sti­tut auf­bau­en woll­te. Der Plan be­steht zwar noch immer, ist aber bis­lang noch nicht um­ge­setzt. Da es mir im Nor­den ge­fiel, bin ich ge­blie­ben und war zu­nächst in einer Fa­mi­li­en-, Paar- und Er­zie­hungs­be­ra­tungs­stel­le tätig. Spä­ter bin ich an die Uni Flens­burg ge­wech­selt und habe dort am In­sti­tut für Psy­cho­lo­gie im MeQS-Pro­jekt (Mehr Qua­li­tät durch Syn­er­gie) ge­ar­bei­tet, im Schwer­punkt Be­ra­tungs- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­psy­cho­lo­gie. Den Wunsch, an die FH Kiel zu kom­men, hatte ich schon vor un­ge­fähr drei Jah­ren. Zum einen, weil ich mir an der Hoch­schu­le in­ter­es­san­te Per­spek­ti­ven er­hoff­te, zum an­de­ren, weil meine Frau aus Kiel kommt. Ende 2012 wurde die pas­sen­de Stel­le aus­ge­schrie­ben. Ich freue mich, dass es ge­klappt hat.

JT: Wie wür­den Sie Laien Ihr heu­ti­ges Ar­beits­ge­biet er­klä­ren?

JRM: Ich habe eine Pro­fes­sur für psy­cho­so­zia­le Dia­gnos­tik und Be­ra­tung. Psy­cho­so­zia­le Dia­gnos­tik ist ein re­la­tiv altes Thema in der So­zia­len Ar­beit. Den Be­griff „so­zia­le Dia­gno­se“ präg­te be­reits Alice Sa­lo­mon*. Bis in die spä­ten 1990er Jahre wurde die­ses Feld je­doch eher stief­müt­ter­lich be­han­delt; es fin­det ge­ra­de erst brei­te­re Ak­zep­tanz in der So­zia­len Ar­beit – zu­min­dest unter dem Label „Dia­gnos­tik“ – und be­ginnt, sich damit auch ge­ra­de erst rich­tig zu ent­fal­ten. An der Aus­dif­fe­ren­zie­rung die­ses „Fachs“ möch­te ich gerne mit­ar­bei­ten. So gibt es z. B. ganz in­no­va­ti­ve Kon­zep­te und Ver­fah­ren in der So­zia­len Ar­beit, die quan­ti­ta­ti­ve For­schung und Ent­wick­lung der psy­cho­so­zia­len Dia­gnos­tik na­he­le­gen. Ge­ra­de im Hin­blick auf den Le­gi­ti­ma­ti­ons­druck So­zia­ler Ar­beit ge­gen­über öf­fent­li­chen Trä­gern macht es Sinn, sich hier stär­ker auf­zu­stel­len; denn So­zia­le Ar­beit wird nach wie vor von vie­len be­lä­chelt. Daher ist es umso wich­ti­ger, das Pro­fil in Rich­tung psy­cho­so­zia­ler Dia­gnos­tik zu schär­fen.

JT: Und was be­inhal­tet die psy­cho­so­zia­le Be­ra­tung?

JRM: In der So­zia­len Ar­beit ist sie ein dif­fus um­ris­se­nes The­men­feld. Es geht um Be­ra­tungs­an­sät­ze, die an­ge­wen­det wer­den in Be­rei­chen der So­zi­al­ar­beit – wie All­ge­mei­ner So­zia­ler Dienst, Ju­gend­amt, Street­work, Ca­se­ma­nage­ment, Er­zie­hungs- und Fa­mi­li­en­be­ra­tungs­stel­len –, in ein­fa­chen Tür-und-Angel-Ge­sprä­chen oder auch in Team-Su­per­vi­si­on und kol­lek­ti­ver Fall­be­ra­tung. Hier be­fin­det sich das Fach, ge­nau­so wie in der vor­hin an­ge­spro­che­nen Dia­gnos­tik, noch in einer Pro­fil­schär­fungs­pha­se. Und da möch­te ich na­tür­lich gern mit schär­fen.

JT: Was wol­len Sie Ihren Stu­die­ren­den ver­mit­teln?

JRM: Im Stu­di­en­gang So­zia­le Ar­beit sind schon Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen tätig, deren Schwer­punkt auf der Ver­mitt­lung psy­cho­so­zia­ler Be­ra­tung liegt, so­dass ich mich hier „nur“ als Ver­stär­kung ein­brin­gen werde. Meine ak­tu­el­len Schwer­punk­te bil­den Be­ra­tungs­kon­zep­te mit sys­te­mi­schem Fokus und Kon­zep­te mit Be­we­gungs­ori­en­tie­rung. Zu­künf­tig möch­te ich aber auch gern an der be­sag­ten Pro­fil­schär­fung psy­cho­so­zia­ler Be­ra­tung mit Stu­die­ren­den ar­bei­ten.

Meine ak­tu­el­le Haupt­auf­ga­be sehe ich in der Ver­mitt­lung und Ent­wick­lung der psy­cho­so­zia­len Dia­gnos­tik ge­mein­sam mit den Stu­die­ren­den. Dar­über hin­aus plane ich, psy­cho­mo­to­ri­sche Pro­jek­te im Be­reich der Phy­sio­the­ra­pie und Se­mi­na­re zur Ein­bin­dung von Re­li­gi­on in psy­cho­so­zia­len Be­ra­tungs­si­tua­tio­nen an­zu­bie­ten.

* Alice Sa­lo­mon (1872-1948) war eine li­be­ra­le So­zi­al­re­for­me­rin in der deut­schen Frau­en­be­we­gung und eine Weg­be­rei­te­rin der So­zia­len Ar­beit als Wis­sen­schaft. In die­sem Zu­sam­men­hang führ­te sie den Be­griff So­zia­le Dia­gnos­tik ein.

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