Frau Prof. Dr. Doris Weßels steht an der Uni Bremen in einem Hörsaal vor einer Projektionsfläche© D. Wessels
Auch beim Bremer Symposium war Prof. Dr. Doris Weßels zu hören mit einer Keynote zu generativen KI-Sprachmodellen.

„Wir müssen endlich durchstarten“

von Susanne Meise

Vorträge, Podiumsdiskussionen, Interviews – beim Thema Chat GPT ist Prof. Dr. Doris Weßels vom Fachbereich Wirtschaft zu einer gefragten Expertin auf dem Gebiet geworden. Im Interview spricht sie über die zurückliegenden Monate und gibt einen Ausblick, was die Technologie noch bringen mag.

Frau Weßels, ChatGPT hat Ihnen spannende Monate mit zahlreichen Veranstaltungen in ganz Deutschland beschert. Hätten Sie, als Sie die Sprach-KI zum ersten Mal getestet haben, erwartet, dass das Thema so rasant Fahrt aufnimmt?

Ich habe ChatGPT das erste Mal gegen 9 Uhr morgens am 2. Dezember 2022 ausprobiert. Abends zuvor war ich zu fortgeschrittener Stunde von einem Kieler KI-Experten angerufen worden, der seine Begeisterung gar nicht im Zaum halten konnte, und ich erinnere mich noch sehr genau, wie er völlig verwirrt, irritiert, aber auch begeistert erzählte, dass diese neue Chat-Anwendung von OpenAI sich sogar bei vermeintlichen Fehlern entschuldigen würde. Von daher war mir bewusst, dass auch meine erste Berührung mit ChatGPT ein besonderer Moment sein würde.

Da ich seit 2019 die Entwicklung der vorhergehenden Sprachmodelle GPT-2 und GPT-3 verfolgt und dort bereits diverse „magische“ Momente der Leistungssteigerung erlebt hatte, war ich mir des historischen Momentes bewusst und tatsächlich ein wenig aufgeregt, als ich meinen ersten Prompt bei ChatGPT eingegeben habe. Die Wirkung zeigte sich bei mir auch bezeichnenderweise sehr prompt: Ich war noch das ganze Wochenende in meinem Gedankenkarussell gefangen.

Während dieser ersten Dezembertage jagte auf den Social Media Plattformen ein Superlativ den nächsten bei den Kommentaren und Bewertungen zu ChatGPT. Es war für uns alle überraschend, dass generative KI nun eingebunden war in diese sehr ansprechende und benutzerfreundliche Dialogform eines Chats. Hinzu kam, dass ChatGPT kostenlos angeboten wurde, was für die Grundversion bis heute gilt. Auch die Registrierung und die Handhabung waren so einfach, dass Anwender nicht abgeschreckt wurden durch technische Hürden. Diese drei Punkte haben dieses Produkt und seine Markteinführung so erfolgreich gemacht. Nach fünf Tagen hatten sich bereits 1 Millionen User registriert.

Ich war vor meiner Tätigkeit im Hochschulumfeld zwölf Jahre in der Wirtschaft tätig und dort immer im IT-Umfeld. Von daher habe ich auch viele IT- Innovationen in meinem Leben erlebt. Aber keine der bisherigen IT-Innovationen hat nur ansatzweise einen derartigen Hype entfacht wie diese Form der generativen KI. 

Welche der von Ihnen besuchten Veranstaltungen war die, die Sie am meisten beeindruckt hat, und warum?

Die Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ein für den weiteren Verlauf besonders relevantes Event war die Einladung der sehr renommierten Informatik-Professorin Katharina Zweig vom Fachbereich Informatik der TU Kaiserslautern, die ich bisher nur als Bestseller-Autorin, aber nicht persönlich kannte, zu einem Online-Vortrag „ChatGPT in der Lehre“ unmittelbar vor Weihnachten am 20.12.2022. Schon einige Tage vorher zeigte sich, dass wir bereits 300 Anmeldungen hatten und die Resonanz unsere Erwartungen deutlich übertraf. Unsere aufgezeichnete Veranstaltung hat bei Youtube bis heute ca. 25.000 Aufrufe und wurde mir auch hinterher sehr häufig genannt als Grund für eine Kontaktaufnahme bzw. Anfrage.

Mein Interview bei den Tagesthemen am 11. Januar war für mich natürlich ein besonders aufregender Moment, da ich zuvor noch nie im Fernsehstudio eine Aufnahme erlebt hatte. Aber auch die nachfolgenden Einladungen von Gert Scobel zu seinem Wissenschaftsmagazin bei 3sat in Köln und der gemeinsame Talk mit Ranga Yogeshwar im Berliner Futurium Anfang März waren für mich besondere Highlights. Ich habe im letzten halben Jahr neben den unzähligen Begegnungen im digitalen Raum auch viele persönliche Formen des Austausches erlebt, die mir wertvoll neue Kontakte beschert und mein Leben sehr bereichert haben. Zu diesen Veranstaltungen in Präsenz gehörte sicherlich auch meine Einladung zur Kultusministerkonferenz in Berlin am 16. März. Dort alle bundesdeutschen Bildungs- bzw. Forschungs- und Kultusminister*innen mit ihrer Entourage und die entsprechende Diskussion und Fragerunde zu erleben, hat mir vielfältige neue Eindrücke und Einblicke beschert.

Banner Ankündigung Podiumsdiskussion Prof. Dr. Doris Weßels und Ranga Yogeshwar©Futurium Berlin
Ein Höhepunkt unter all den Veranstaltungen, die Prof. Dr. Doris Weßels zum Thema Chat GPT besucht hat, war die Diskussion mit Ranga Yogeshwar im Futurium Berlin.

Sie haben das Virtuelle Kompetenzzentrum „Schreiben lehren und lernen mit Künstlicher Intelligenz – Tools und Techniken für Bildung und Wissenschaft“ im September 2022 in Kiel gegründet. Wer gehört dazu? Und wie konnten Sie das Thema dort voranbringen?

Unser KI-Kompetenzzentrum habe ich mit meinen damals neun Mitstreiter*innen, die bundesweit verteilt sind, aus den Bereichen Informatik, Bildungsforschung und Schreibdidaktik und dem assoziierten Partner KI-Campus am 1. September 2022 gegründet. Uns war seit Jahren klar, dass die KI-gestützten Schreibwerkzeuge einen immer größeren Einfluss auf Bildungsprozesse an Hochschulen haben würden. Nach der Veröffentlichung von ChatGPT drei Monate nach unserer Gründung erreichten uns jedoch auch viele besorgte Anfragen aus dem schulischen Umfeld. Daher haben wir uns in diesem Bereich personell verstärkt und mit Hendrik Haverkamp einen sehr erfahrenen Lehrer aus Gütersloh mit an Bord genommen. Dieses virtuelle Netzwerk besteht aus intrinsisch motivierten „Überzeugungstäter*innen“, die schon seit Anfang 2020 sehr intensiv zusammenarbeiten und versuchen, dieses Thema an den Hochschulen zu platzieren und die Lehrenden und Leitungsebenen zu sensibilisieren. 

So faszinierend die Leistung von Chat GPT und anderen KI-Technologien auch ist – sie wird nicht immer mit guten Vorsätzen genutzt, sondern auch um zu betrügen wie beispielsweise beim Abitur in Hamburg geschehen oder jüngst mit gefälschten Sprachnachrichten. Kann es gelingen, den Missbrauch von KI-Software zu verhindern? Wenn ja, wie?

Leider wird ChatGPT in unserer Bildungslandschaft häufig mit Begriffen wie Missbrauch, Betrug, Täuschung oder ähnlich negativen Konnotation versehen. Man sagt uns Deutschen nach, dass wir häufig mit „German Angst“ reagieren, d.h. die Vorbehalte und Risiken vorrangig diskutieren und die andere Seite der Medaille, d.h. die Chancen und Einsatzmöglichkeiten dieser IT-Innovation nicht intensiv genug beleuchten.  Und leider spürt man bei diesem Thema auch, dass wir viel mehr Tempo entwickeln müssten bei der notwendigen Aufholjagd im Bereich der Digitalisierung im Bildungsbereich. Wir mussten schon während der Corona-Phase feststellen, dass wir in Deutschland nicht nur weltweit, sondern selbst im europäischen Vergleich beim Stand der Digitalisierung einen Nachholbedarf haben. Nun müssen wir endlich durchstarten und mit unserer menschlichen Kreativität und Gestaltungskompetenz zukunftsfähige Lehr- und Lernprozesse so designen, dass wir die neuen Potenziale generativer KI bestmöglich nutzen, gleichzeitig aber auch die Risiken im Blick behalten. Das ist übrigens ein kontinuierlicher Prozess, da wir uns im Fluss der Veränderungen jeweils bestmöglich (neu)justieren müssen.

Was halten Sie von Tools, die helfen sollen, KI-generierte Texte oder Bilder zu erkennen?

Die sogenannten KI-Detektoren, die eine Unterscheidung von KI-generiertem Content (Texte, Bilder, Videos usw.) und den von Menschen generierten Texten oder anderen Medientypen ermöglichen sollen, greifen leider nur in seltenen Fällen. Stand heute gelten insbesondere die sogenannten KI-Detektoren für Text als nicht zuverlässig. Wir können sie daher weder an Schulen noch an Hochschulen einsetzen.

Mit dieser Frage werde ich übrigens nach fast jedem Vortrag und Workshop konfrontiert. Um ehrlich zu sein, ärgern mich diese Diskussionen, weil es doch nicht darum geht, dass wir unserem Gegenüber Missbrauch unterstellen und ihn dieser Tat überführen wollen. Wir sollten die Zeit lieber investieren, um Anreize und Wege für einen transparenten Einsatz generativer KI bei uns an den Hochschulen zu schaffen. Aus diesem Grund haben wir bereits im Sommer 2022 eine neue Form von Eigenständigkeits- und Kennzeichnungserklärung für Hochschulen vorgeschlagen, die auch vielfach aufgegriffen wurde und an immer mehr Hochschulen in dieser oder einer ähnlichen Form eingesetzt wird.

Sie setzen KI-Technologien in der Lehre ein und lassen Ihre Studierenden damit arbeiten. Wie sinnvoll ist es, diesen Ansatz schon in den weiterführenden Schulen zu verfolgen?

Die Frage des Einsatzes von ChatGPT in den weiterführenden Schulen ist relativ einfach zu beantworten: Gespräche mit Schülerinnen und Schülern zeigen recht eindeutig, dass sie in der Regel mit großer Selbstverständlichkeit diese KI-Werkzeuge bereits nutzen. Sie werden von Lehrern wie Hendrik Haverkamp als „Poweruser“ dieser Technologie charakterisiert. Von weniger KI-kompetenten oder weniger sensiblen Lehrenden ist dieser Einsatz nicht immer zu erkennen, insbesondere dann nicht, wenn die Lernenden vermuten, dass der Einsatz sanktioniert wird.

Aus meiner Sicht können Lehrende die Lebensrealität der Lernenden im KI-Zeitalter nicht ignorieren. Wir müssen die Lehrenden in Deutschland schnellstmöglich qualifizieren und ermuntern, diese Technologie in zielführender und sinnstiftender Form in den Unterricht zu integrieren. Hierzu habe ich im April bei der Bundestagsausschuss-Sitzung zum Thema ChatGPT eine Task-Force „KI-Bildung“ empfohlen, die sich mit zielgruppengerechten Qualifizierungsangeboten an alle Lehrenden und Verantwortlichen im deutschen Bildungsbereich richten sollte. 

Welche Auswirkungen werden KI-Technologien auf die Arbeitswelt haben?

Die Auswirkungen generativer KI auf die Arbeitswelt werden vielfach als die nächste große industrielle Revolution bewertet. Viele namhafte Unternehmensberatungen haben dazu in den letzten Monaten Studien herausgebracht. So hat z.B. die Unternehmensberatungsgesellschaft McKinsey & Company in einer im Juni veröffentlichten Studie das ökonomische Potenzial von generativer KI untersucht und kommt zu dem Schluss, dass die Hälfte der heutigen Arbeitstätigkeiten zwischen 2030 und 2060 automatisiert werden könnte, mit einem Mittelpunkt im Jahr 2045.

Diese Studienergebnisse spiegeln auch das wider, was jeder von uns spürt, wenn er oder sie mit dieser Technologie arbeitet: Wir erfahren einen deutlichen Zeitgewinn. Der neue kollaborative Arbeitsprozess von Mensch und Maschine kann zusätzlich die Qualität der Arbeit deutlich steigern. Diese positiven Auswirkungen belegt eine aktuelle Studie vom MIT vom 13. Juli 2022 sehr deutlich. ChatGPT konnte bei den in dieser Studie untersuchten berufsspezifischen Schreibaufgaben die Produktivität erheblich steigern: Der durchschnittliche Zeitaufwand sank um 40 Prozent, und die Qualität der Arbeit stieg um 18 Prozent.

Darüber hinaus wird diese Technologie natürlich auch zu Veränderungen bei Berufsbildern führen. Es werden neue Kompetenzprofile entstehen und damit neue Rollen und Berufe, aber sie wird auf der anderen Seite auch bestehende Berufsbilder verändern und teilweise ersetzen. Die arbeitsmarktpolitischen Verschiebungen, die damit einhergehen, sind für mich zumindest noch nicht klar erkennbar. Wir benötigen nach meiner Einschätzung ein kontinuierliches Monitoring in unseren politischen Systemen, weil sich diese Technologie unglaublich rasant weiterentwickelt, sehr gut sichtbar bei den täglich neuen KI-Ankündigungen. Der globale Wettbewerb der Tech-Giganten, die diesen explosionsartig wachsenden Markt bearbeiten, führt zu einer Innovationsdynamik, die ich in dieser Form bei IT-Innovationen noch nie erlebt habe.

Wo werden wir in einem Jahr mit ChatGPT und Co. stehen?

Ich bin mir ganz sicher, dass ich bei jeder Einschätzung für die nächsten zwölf Monate garantiert daneben liegen werde, daher konnte ich bei dieser Frage nicht widerstehen und habe last, but not least, ChatGPT (auf Basis von GPT-4) befragt. Hier die aus meiner Sicht erstaunlich aktuell anmutende Antwort, auch wenn sie auf den Trainingsdaten von Stand 2021 basiert:

„Als KI kann ich nicht die Zukunft vorhersagen, aber ich kann basierend auf Trends bis zu meinem Wissensstand im September 2021 spekulieren.

Die Entwicklung von ChatGPT und ähnlichen Modellen erfolgt normalerweise in einigen Schlüsselbereichen:

1. **Verbesserte Sprachverständigung**: Mit jeder neuen Version versucht OpenAI, die Fähigkeiten der Modelle zur Verständigung und zum Verstehen der Absichten der Benutzer zu verbessern. In einem Jahr könnten wir Modelle sehen, die natürlicher, kohärenter und nuancierter in der Sprache sind.

2. **Kontextsensitivität**: Zunehmende Fortschritte in der KI-Forschung könnten zu Verbesserungen in der Fähigkeit von Modellen führen, Kontext zu behalten und anzuwenden, was zu sinnvolleren und zielgerichteteren Gesprächen führt.

3. **Persönlicher und anpassungsfähiger**: Zukünftige Modelle könnten die Fähigkeit haben, sich an die Präferenzen und den Stil des einzelnen Benutzers anzupassen, um ein persönlicheres und individuelles Erlebnis zu bieten.

4. **Ethik und KI-Sicherheit**: Da KI-Modelle wie GPT immer mächtiger werden, wird auch die Notwendigkeit größer, sicherzustellen, dass sie auf ethische und sichere Weise verwendet werden. In den nächsten Jahren könnten wir mehr Fortschritte in den Mechanismen zur Steuerung des Verhaltens von Modellen und zur Vermeidung von Missbrauch sehen.

5. **Anwendungen**: Schließlich könnten wir auch eine größere Anzahl und Vielfalt von Anwendungen für Modelle wie GPT sehen. Sie könnten in Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen, Unterhaltung und vielen anderen eingesetzt werden.

Aber bitte beachten Sie, dass dies Spekulationen sind und die tatsächlichen Entwicklungen von vielen Faktoren abhängen, einschließlich technologischer Durchbrüche, regulatorischer Entscheidungen und der gesellschaftlichen Akzeptanz von KI-Technologien.“

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