Schriftzug: all© J. Tyson

Ge­rech­tig­keit ist ein mensch­li­ches Be­dürf­nis

von Prof. Dr. Otmar Ha­ge­mann

Am 20. Fe­bru­ar 2009 wurde auf In­itia­ti­ve der UNO erst­mals der Tag der So­zia­len Ge­rech­tig­keit be­gan­gen – wir fei­ern die­ses Jahr also das zehn­te Ju­bi­lä­um. Wohl jede Le­se­rin und jeder Leser traut sich in­tui­tiv eine Be­ur­tei­lung zu, ob eine ge­ge­be­ne Lage ge­recht ist. Ist es ge­recht, dass Frau­en häu­fig für die glei­che Ar­beit ge­rin­ger ent­lohnt wer­den als Män­ner? Viele Ar­beit­ge­ber bzw. Per­so­nal­ver­ant­wort­li­che schei­nen das zu be­ja­hen. Ist es ge­recht, wenn Men­schen ge­zwun­gen sind, auf­grund von Krieg oder an­de­rer Not ihre Hei­mat zu ver­las­sen und oben­drein im wei­te­ren Ver­lauf Ob­jekt feind­se­li­ger Hand­lun­gen wer­den? Ist eine Welt­ord­nung ge­recht, in der der rei­che Nor­den den grö­ß­ten Teil der Res­sour­cen ver­braucht und der arme Süden viel stär­ker bei­spiels­wei­se von den Fol­gen der Um­welt- und Kli­ma­zer­stö­rung be­trof­fen ist? Trotz aller sub­jek­ti­ven Wer­tun­gen soll­ten diese Fra­gen Em­pa­thie, So­li­da­ri­tät und Un­ter­stüt­zungs­be­reit­schaft för­dern – Kon­zep­te, die die So­zia­le Ar­beit als Men­schen­rechts­pro­fes­si­on ins Zen­trum ihres Han­delns rückt. Die So­zia­le Ar­beit be­fasst sich mit dem Auf­zei­gen und Aus­glei­chen von Un­ge­rech­tig­kei­ten, d.h. sie hat ein po­li­ti­sches Man­dat. Sie ist in­so­fern kri­tisch, ent­wi­ckelt Kon­zep­te und Pro­gram­me, die mög­lichst Ab­hil­fe bei Un­ge­rech­tig­kei­ten bzw. Be­nach­tei­li­gun­gen schaf­fen, eine „res­to­ra­ti­ve Ge­sell­schaft“ för­dern (vgl. Ethik­ko­dex der So­zia­len Ar­beit).

Häu­fig haben wir selbst Un­ge­rech­tig­keit er­fah­ren, sei es über die Be­no­tung von Prü­fungs­leis­tun­gen, die Ent­loh­nung oder die Be­hand­lung in einer kon­kre­ten In­ter­ak­ti­on. Aber es gibt un­ter­schied­li­che Arten von Ge­rech­tig­keit. So­zia­le Ge­rech­tig­keit („so­ci­al ju­sti­ce“) be­zieht sich auf das Ver­hält­nis von Men­schen zu­ein­an­der. Sie ver­bin­det ein in­di­vi­du­el­les sub­jek­ti­ves Gerechtigkeits­empfinden mit der kon­kre­ten ge­sell­schaft­li­chen Lage. Es gibt kei­nen so­zia­len Frie­den ohne so­zia­le Ge­rech­tig­keit oder we­nigs­tens die Aus­sicht auf eine An­nä­he­rung an diese. Der Frie­dens­for­scher Johan Gal­tung hat den Be­griff der struk­tu­rel­len Ge­walt ein­ge­führt, eine Ge­walt­form, die nicht di­rekt phy­si­sche oder psy­chi­sche Ver­let­zun­gen her­vor­ruft, son­dern Men­schen daran hin­dert, ihr Po­ten­ti­al zu ent­wi­ckeln. Die Er­geb­nis­se der Pisa-Stu­di­en, nach denen Bil­dungs­er­fol­ge jun­ger Men­schen in Deutsch­land vor allem durch den so­zia­len Sta­tus der El­tern er­klärt wer­den, sind Aus­druck struk­tu­rel­ler Ge­walt und stel­len eine so­zia­le Un­ge­rech­tig­keit dar.

So­zia­le Ge­rech­tig­keit ver­weist auf die Teil­ha­be am ge­sell­schaft­li­chen Leben, ist also eng mit den Kon­zep­ten der De­mo­kra­tie und des Em­power­ment ver­bun­den. Der Be­griff trat his­to­risch im Zu­sam­men­hang mit der So­zia­len Frage Mitte des 19. Jahr­hun­derts auf. Da­mals ver­elen­de­ten große Teile der Be­völ­ke­rung bei in­hu­ma­nen Ar­beits­be­din­gun­gen und ohne so­zia­le Ab­si­che­rung z.B. für Ar­beits­lo­se, Alte, Kran­ke oder Men­schen, für die aus an­de­ren Grün­den dau­er­haft oder zeit­wei­se kein Ein­kom­men durch Ar­beit zu er­zie­len war.

Ge­rech­tig­keit ist ein mensch­li­ches Be­dürf­nis und be­zieht sich auf die Würde, die jedem ein­zel­nen In­di­vi­du­um, also bei­spiels­wei­se Frau­en, Män­nern, Trans­gen­dern, Kin­dern, Alten, Men­schen mit Be­hin­de­rung oder Migrations­hintergrund, Straf­fäl­li­gen und Ver­letz­ten glei­cher­ma­ßen zu­ge­stan­den wird. Es geht also zen­tral um Men­schen­rech­te, Re­spekt an­de­rer vor der In­te­gri­tät jeder Per­son. Der So­zio­lo­ge Hans Joas spricht in die­sem Zu­sam­men­hang von der Sa­kra­li­tät des In­di­vi­du­ums. An­de­re Wis­sen­schaft­ler und Wis­sen­schaft­le­rin­nen sehen nicht nur den ak­tu­ell le­ben­den Men­schen, son­dern be­zie­hen frü­he­re und zu­künf­ti­ge Ge­ne­ra­tio­nen, ihre Kul­tu­ren sowie die na­tür­li­che Um­welt in­klu­si­ve der Tiere, Pflan­zen und des Kli­mas ein. Die Vi­si­on der „res­to­ra­ti­ve so­cie­ty“ be­schreibt eine nicht nur in so­zia­ler Hin­sicht ge­rech­te Welt. Die­ser Leit­idee folgt die Theo­rie der „res­to­ra­ti­ve ju­sti­ce“ bzw. im Be­reich der So­zia­len Ar­beit „res­to­ra­ti­ve so­ci­al work“. So­wohl die UNO als auch die EU und der Eu­ro­pa­rat haben di­ver­se Emp­feh­lun­gen er­ar­bei­tet, wie Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce im all­täg­li­chen Leben um­ge­setzt wer­den kann. Im Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reich und in Neu­see­land gibt es erste Städ­te, die sich als „res­to­ra­ti­ve ci­ties“ be­zeich­nen und die­sem An­satz ver­pflich­tet füh­len.

Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce ist die ame­ri­ka­ni­sche Über­set­zung einer ur­sprüng­lich von deut­schen Theo­lo­gen be­nann­ten Theo­rie der hei­len­den Ge­rech­tig­keit. Ziel ist die Her­stel­lung des so­zia­len Frie­dens zwi­schen ein­zel­nen Men­schen – im Straf­recht z.B. zwi­schen „Op­fern“ und „Tä­tern“ – so­zia­len Grup­pen und Ge­mein­schaf­ten – z.B. Zu­ge­hö­ri­gen un­ter­schied­li­cher Re­li­gio­nen, aber auch Alt­ein­ge­ses­se­nen und neu Hin­zu­kom­men­den – auch zwi­schen „dem Staat“ und sei­nen Bür­gern oder Or­ga­ni­sa­tio­nen sowie zwi­schen Ge­sell­schaf­ten wie der deut­schen und der fran­zö­si­schen nach dem Zwei­ten Welt­krieg, aber auch staa­ten­lo­sen Grup­pen wie Kur­den oder Pa­läs­ti­nen­sern und den je­wei­li­gen staat­li­chen En­ti­tä­ten. Diese „hei­len­de“ oder her­stel­len­de Ge­rech­tig­keit zielt auf die Trans­for­ma­ti­on so­wohl unvollkomme­ner In­di­vi­du­en als auch so­zia­ler Struk­tu­ren. In ge­wis­ser Weise set­zen wir also immer noch bei der So­zia­len Frage an. Der An­spruch des so­ge­nann­ten So­zi­al­staats so­zia­le Ge­rech­tig­keit her­ge­stellt zu haben, muss per­ma­nent hin­ter­fragt wer­den (vgl. Pro­tes­te der „gel­ben Wes­ten“ in Frank­reich und auf­kom­men­der Po­pu­lis­mus in vie­len Län­dern).

Die so­zia­le Ge­rech­tig­keit im Sinne einer Res­to­ra­ti­ve Ju­sti­ce folgt in der kan­ti­schen Tra­di­ti­on (vgl. ka­te­go­ri­scher Im­pe­ra­tiv) einer „re­pu­bli­ka­ni­schen“ Frei­heits­idee der Nicht­be­herr­schung, nach der die Ver­wirk­li­chung ei­ge­ner Frei­heit nur so lange ge­recht sein kann, wie je­mand nicht in die Frei­heit einer an­de­ren Per­son ein­dringt und setzt sich damit von ten­den­zi­ell un­be­grenz­ten li­be­ra­len Freiheitskonzep­tionen ab, selbst wenn diese - wie etwa im Mo­dell von Rawls - durch „Far­ben­blind­heit“, Chan­cen­gleich­heit und ge­wis­se Fair­ness-Re­geln ge­zähmt ist.

© Fach­hoch­schu­le Kiel