In einem breit angelegten Garten ist ein aus Steinen geformtes Herz zu sehen.© T. Rie­del
Kein Still­stand: Mit viel Liebe und Ta­ten­drang ver­än­dern die Kin­der und Ju­gend­li­chen den Gar­ten des G(a)arden(ing)!-Pro­jekts seit Ok­to­ber 2013 kon­ti­nu­ier­lich.

Mehr als nur ein gar­ten

von viel.-Re­dak­ti­on

Grüne Oasen in­mit­ten von grau­em Gro­ß­stadt­be­ton, blü­hen­de Beete neben Ber­gen aus Müll: Das Bild der Gro­ß­stadt hat sich ge­wan­delt. Ob Bra­chen, Park­haus­dä­cher oder Mau­ern, an jedem nur denk­ba­ren Ort bud­deln, pflan­zen und ern­ten Gue­ril­la­gärt­ne­rin­nen und -gärt­ner. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren haben sich so­ge­nann­te Tran­si­ti­on-Town-Be­we­gun­gen und Urban-Gar­de­ning-Pro­jek­te so ra­sant aus­ge­brei­tet wie eine Gras­wur­zel. Sie geben der Stadt und ihren Be­woh­ne­rin­nen und Be­woh­nern viel mehr als nur ein Stück Natur zu­rück, wie das Dritt­mit­tel­pro­jekt G(a)arden(ing)! der Fach­hoch­schu­le Kiel be­weist.

Hin­ter den tris­ten Ge­bäu­de­fas­sa­den wan­dert die Som­mer­son­ne lang­sam über den wol­ken­lo­sen Him­mel. In der Ferne rauscht der Fei­er­abend­ver­kehr, ehe er vom regen Trei­ben auf den Stra­ßen des Vier­tels ver­schlun­gen wird. Ein Meer aus Stim­men und Ge­rü­chen liegt in der Luft. Rast­los und pul­sie­rend brei­tet sich Kiel an die­sem Nach­mit­tag in Gaar­den vor den Men­schen aus. Ab­seits des Tru­bels herrscht eine ganz an­de­re At­mo­sphä­re. In der Nähe der Räu­che­rei do­mi­nie­ren lieb­li­che Vo­gel­ge­sän­ge und das Rau­schen der Blät­ter im Wind. Fröh­lich spie­len­de Jun­gen und Mäd­chen toben durch Mais- und Sa­lat­bee­te, bud­deln mit ihren blo­ßen Hän­den Lö­cher in den Boden und pflü­cken ver­gnügt Sauer­kir­schen, die schnell in ihren Mün­dern ver­schwun­den sind. Aus dem Ge­wu­sel ragt Ser­dar Külah­lio­g­lu her­vor, ein gro­ßer, dun­kel­haa­ri­ger jun­ger Mann. Wäh­rend der 35-Jäh­ri­ge mit den einen die Pflan­zen wäs­sert, ver­sucht er gleich­zei­tig, die neu­gie­ri­gen Fra­gen der an­de­ren zu­frie­den­stel­lend zu be­ant­wor­ten und wech­selt dabei mü­he­los zwi­schen Tür­kisch und Deutsch.

Über den klei­nen Vor­platz des Gar­tens, auf dem ein Ein­kaufs­wa­gen und an­de­rer Sperr­müll eine neue Hei­mat ge­fun­den haben, sind es nur we­ni­ge Schrit­te bis zum schma­len Ein­gangs­tor des Ge­län­des. Ser­dar Külah­lio­g­lu heißt Gäste stets mit of­fe­nen Armen will­kom­men und führt sie gern über das Grund­stück. Zu jedem Win­kel des Gar­tens kann der Stu­dent der So­zia­len Ar­beit etwas er­zäh­len und na­tür­lich weiß er auch, wie das G(a)arden(ing)!-Pro­jekt ent­stan­den ist. „Der An­satz stammt von mei­ner Pro­fes­so­rin Me­la­nie Groß, die ein In­te­gra­ti­ons­pro­jekt ins Leben rufen woll­te, das Kin­dern und Ju­gend­li­chen einen neuen so­zia­len Raum gibt, der ihnen eine an­de­re Form der Teil­ha­be er­mög­licht“, er­klärt Ser­dar Külah­lio­g­lu.

Was zu Be­ginn schwer er­schien, war am Ende doch sehr ein­fach, denn viele Men­schen waren be­geis­tert von dem Vor­ha­ben und boten ihre Hilfe an. Durch die fi­nan­zi­el­le För­de­rung des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Fa­mi­li­en, Se­nio­ren, Frau­en und Ju­gend sowie des Bun­des­amts für Mi­gra­ti­on und Flücht­lin­ge konn­te das Pro­jekt­team um Prof. Dr. Me­la­nie Groß seine in­ter­kul­tu­rel­le Idee rea­li­sie­ren – zu­nächst bis 2016. 50.000 Euro Bud­get ste­hen nun jähr­lich für Work­shops, Per­so­nal-, Ho­no­rar- und Ma­te­ri­al­kos­ten zur Ver­fü­gung. Als Pro­jekt­part­ne­rin­nen konn­ten die AWO und die Stadt Kiel schnell ge­won­nen wer­den. Letz­te­re bot Me­la­nie Groß schlie­ß­lich ein 500 Qua­drat­me­ter gro­ßes Grund­stück in Gaar­den zur Pacht an – ge­le­gen an einem so­zi­al bri­san­ten Ort. Denn di­rekt an das Ge­län­de grenzt ein her­un­ter­ge­kom­me­nes Haus an, in dem viele Men­schen, so be­rich­tet Ser­dar Külah­lio­g­lu, auf engs­tem Raum zu­sam­men­le­ben. Haupt­säch­lich han­delt es sich dabei um bul­ga­ri­sche Flücht­lin­ge, die sich in Deutsch­land zwar auf­hal­ten dür­fen, je­doch keine Ar­beits­ge­neh­mi­gung haben. Durch die ex­tre­me Über­be­le­gung ist im Laufe der Zeit ein gro­ßes Müll­pro­blem ent­stan­den, das wie­der­um zur Dis­kri­mi­nie­rung der Grup­pe ge­führt hat. Schnell wird deut­lich, dass hier, im Ver­gleich zu Stadt­tei­len wie Dü­stern­brook oder Wik, eine mas­si­ve so­zia­le Un­gleich­heit und ein damit ein­her­ge­hen­des enor­mes Kon­flikt­po­ten­ti­al herr­schen. Armut und Ar­beits­lo­sig­keit füh­ren zu einer Per­spek­tiv­lo­sig­keit, die sich auf die hie­si­gen Kin­der und Ju­gend­li­chen über­trägt. Un­kon­trol­lier­tes und ge­walt­vol­les Ver­hal­ten kön­nen die Folge sein. Das will das Pro­jekt seit dem 1. Ok­to­ber 2013 än­dern

Dem Rund­gang über das Grund­stück haben sich mitt­ler­wei­le ei­ni­ge der am Pro­jekt be­tei­lig­ten Jun­gen und Mäd­chen an­ge­schlos­sen. In den Som­mer­mo­na­ten ist der Gar­ten mon­tags bis frei­tags von 15 bis 20 Uhr für sie ge­öff­net, immer unter der Auf­sicht von Ser­dar Külah­lio­g­lu und an­de­rer Ho­no­rar­kräf­te. Im Win­ter va­ri­ie­ren die Zei­ten. Aber auch vor und nach der Be­treu­ungs­pha­se kön­nen die An­woh­ner und ihre Kin­der das Ge­län­de nut­zen. Für ge­wöhn­lich tum­meln sich im Gar­ten nach­mit­tags zehn bis 30 junge Men­schen. Sie kom­men zu Tei­len aus einem nahe ge­le­ge­nen Mäd­chen­treff und Ju­gend­zen­trum, meist je­doch aus den Häu­sern der Nach­bar­schaft. Das war zu Be­ginn noch ganz an­ders. Der Gar­ten, er­in­nert sich Ser­dar Külah­lio­g­lu, wurde im Vier­tel mit Skep­sis be­trach­tet. Immer wie­der gab es Fälle von Van­da­lis­mus.

Die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Ge­län­de brauch­te ihre Zeit, bei Jün­ge­ren und Äl­te­ren glei­cher­ma­ßen. Heute zei­gen Gro­ßvä­ter und Müt­ter Hilfs­be­reit­schaft und geben sogar Tipps in punc­to Gar­ten­ar­beit – das Blatt hat sich zum Po­si­ti­ven ge­wan­delt. „Ge­bets­müh­len­ar­tig muss­ten wir den Ju­gend­li­chen am An­fang immer wie­der er­klä­ren, in wel­chem Sta­di­um sich die Pflan­zen be­fin­den und wann sie reif zum Ern­ten sind. Ihr Be­wusst­sein für Le­bens­mit­tel hat sich mit der Zeit ent­wi­ckelt. Heute schme­cken ihnen Ge­mü­se­sor­ten, die sie zu­hau­se ver­mut­lich nie pro­biert hät­ten. Dafür gibt es eine ein­fa­che Er­klä­rung: Wer das Wachs­tum der Pflan­zen vom Ein­sa­men bis zum Ern­ten be­glei­tet, will auch wis­sen, wie sie schme­cken. Was wir hier mit den Jun­gen und Mäd­chen ern­ten, kön­nen sie mit nach Hause neh­men und dort beim Ko­chen ver­wer­ten“, er­zählt der Stu­dent.

  •  

Mit Stolz zei­gen die jun­gen Hob­by­gärt­ne­rin­nen und -gärt­ner, was sie schon alles ge­schafft haben. In­ner­halb eines Jah­res ist an die­sem Ort eine grüne Oase ent­stan­den: Hin­ter Kür­bis­sen, Broc­co­li und Kohl­ra­bi sprie­ßen Sa­lat­sor­ten und präch­ti­ge Pe­pe­ro­ni empor, gleich da­ne­ben bah­nen sich große Son­nen­blu­men ihren Weg nach oben. Sal­bei, Thy­mi­an, Minze und Pe­ter­si­lie ver­strö­men ihre äthe­ri­schen Düfte. Wil­den Ur­wäl­dern äh­nelnd be­her­ber­gen zwei licht­durch­flu­te­te Ge­wächs­häu­ser un­zäh­li­ge To­ma­ten­sträu­cher und Setz­lin­ge.

Die Tour durch den Gar­ten führt ent­lang der Kar­tof­feln zu einem gro­ßen Baum, der von alten Au­to­rei­fen um­zin­gelt zu sein scheint. Hier wird eine schat­ti­ge Sitz­ge­le­gen­heit ent­ste­hen, die zu ge­mein­sa­men Ge­sprä­chen und Kar­ten­spie­len ein­la­den soll. Ein paar Schrit­te wei­ter war­tet ein alter Wohn­wa­gen auf sei­nen Ein­satz. „Den ent­ker­nen die Ju­gend­li­chen ge­mein­sam mit uns dem­nächst und ver­wan­deln ihn in eine bunte Gar­ten­lau­be. Bei Regen kön­nen wir uns hier dann mal in Si­cher­heit brin­gen“, meint Ser­dar Külah­lio­g­lu. Zur Rech­ten des Wa­gens er­streckt sich über die Flä­che einer grau­en Be­ton­wand eine rie­si­ge Hand, die eine saf­ti­ge Ka­rot­te hält. Das Graf­fi­ti-Motiv sym­bo­li­siert, was mit ei­ge­ner Kraft ent­ste­hen kann, und soll nicht das ein­zi­ge Kunst­werk blei­ben. „Bis unten an den im­pro­vi­sier­ten Zaun kön­nen die Jun­gen und Mäd­chen far­ben­fro­he Bil­der malen. Der Krea­ti­vi­tät wol­len wir hier keine Gren­zen set­zen.“

Noch vor einem Jahr schien der jet­zi­ge Zu­stand des Gar­tens kaum vor­stell­bar. Wo heute Ge­mü­se ge­deiht und Schmet­ter­lin­ge in der Luft tan­zen, herrsch­te da­mals Chaos. Ma­trat­zen, Elek­tro­schrott, ganze Müll­ber­ge haben Me­la­nie Groß und ihr Team ab­trans­por­tiert. Bis heute bringt jeder Spa­ten­stich Scher­ben und Stei­ne zum Vor­schein. Un­brauch­ba­res wird ent­sorgt, mit dem Rest der Fund­sa­chen set­zen die jun­gen Men­schen jeden Tag aufs Neue ihre krea­ti­ven Ideen um. Mit­hil­fe der alten Stei­ne haben sie herz- und nie­ren­för­mi­ge Beete an­ge­legt. Mo­sa­ik­ar­ti­ge Pfade zie­hen sich über das Grund­stück und bet­ten Mais und Blu­men in das Ge­fü­ge ein. Und noch immer gibt es ge­nü­gend Flä­che für wei­te­re We­ge­net­ze, die an wie­der neuen Pflan­zen vor­bei­füh­ren kön­nen.

Der Gar­ten ist ein Be­geg­nungs- und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ort zu­gleich. Viele der haupt­säch­lich bul­ga­ri­schen Kin­der und Ju­gend­li­chen spre­chen kaum oder recht schlecht Deutsch. Bul­ga­risch, Tür­kisch und ihre ur­ei­ge­ne Spra­che Ro­ma­nes be­herr­schen sie hin­ge­gen flie­ßend. An die­ser Stel­le hilft Ser­dar Külah­lio­g­lu seine ei­ge­ne Her­kunft: Der 35-Jäh­ri­ge ist zwar in Deutsch­land ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen, seine El­tern stam­men je­doch aus der Tür­kei. „Es ist von Vor­teil, einen tür­kisch­spra­chi­gen Mit­ar­bei­ter im Team zu haben, aber viel ent­schei­den­der ist ei­gent­lich die Art, auf die Jun­gen und Mäd­chen zu­zu­ge­hen. Die meis­ten Ho­no­rar­kräf­te kön­nen die Spra­che nicht und wer­den den­noch heiß und innig ge­liebt. So­bald wir den Ju­gend­li­chen Auf­merk­sam­keit schen­ken, haben sie au­to­ma­tisch Lust, sich mit­zu­tei­len und sind viel emp­fäng­li­cher für die deut­sche Spra­che“, weiß Ser­dar Külah­lio­g­lu. Zu­sätz­lich soll der per­ma­nen­te Dia­log ihnen dabei hel­fen zu ver­ste­hen, dass sie Pro­ble­me ver­bal, ohne ihre Fäus­te, lösen kön­nen.

Ihre über­schüs­si­ge En­er­gie kön­nen sie im Gar­ten an an­de­rer Stel­le ka­na­li­sie­ren: beim Gra­ben, Ern­ten, Ma­lern und Bauen. „Wir be­ob­ach­ten jeden Tag, wie viel aus­ge­gli­che­ner die Ju­gend­li­chen wer­den. Mit jedem Samen, jeder Pflan­ze, jedem ge­setz­ten Stein schaf­fen sie etwas Ei­ge­nes und ar­bei­ten an ihrem Selbst­bild. Durch das Pro­jekt ler­nen sie, sich selbst mehr zu­zu­trau­en, stolz auf sich zu sein und neuen Auf­ga­ben ohne Angst zu be­geg­nen. Die­ser Ef­fekt über­trägt sich auch auf an­de­re Be­rei­che – ihre schu­li­schen Leis­tun­gen ver­bes­sern sich bei­spiels­wei­se“, be­rich­tet Ser­dar Külah­lio­g­lu. „Vor allem aber füh­len sich die jun­gen Men­schen bei uns ge­hört. Hier kön­nen sie ihre Wün­sche frei äu­ßern. In­te­gra­ti­on ent­steht un­se­rer Mei­nung nach nur mit Teil­ha­be. So­bald wir an­fan­gen, Men­schen von Räu­men, Flä­chen oder auch Ent­schei­dun­gen aus­zu­schlie­ßen, schei­tert un­se­re Ge­sell­schaft.“ Das G(a)arden(ing)!-Pro­jekt kann also viel mehr, als nur die Natur zu­rück in die Stadt zu holen. Wel­che Dinge hier noch ent­ste­hen, wird die Zu­kunft zei­gen. Eins ist je­doch ge­wiss: Das Ex­pe­ri­men­tier­feld steckt erst in sei­nen Kin­der­schu­hen.

von Laura Berndt

© Fach­hoch­schu­le Kiel