Portemonee aus dem Münzgeld fällt© Pixa­bay

Wie kann Armut be­kämpft wer­den?

von Prof. Dr. Kai Mar­quard­sen

Wenn in Deutsch­land von Armut die Rede ist, ist damit „re­la­ti­ve Armut“ ge­meint: Men­schen leben hier­zu­lan­de in der Regel nicht un­ter­halb eines ab­so­lu­ten Exis­tenz­mi­ni­mums, indem ihnen etwa die le­bens­not­wen­di­ge Ver­sor­gung mit Nah­rung oder sau­be­rem Trink­was­ser ver­wehrt bleibt. Re­la­tiv arm zu sein be­deu­tet viel­mehr, dass Men­schen in ihrer all­täg­li­chen Le­bens­füh­rung im Ver­gleich zu an­de­ren be­nach­tei­ligt sind, weil sie un­ter­halb der Schwel­le des­sen blei­ben, was zur Teil­ha­be an der Ge­sell­schaft als not­wen­dig und an­ge­mes­sen an­ge­se­hen wird. Teil­ha­be wird in un­se­rer Ge­sell­schaft ma­ß­geb­lich über das Vor­han­den­sein eines Ein­kom­mens ver­mit­telt, über das wie­der­um eine Viel­zahl von Be­dürf­nis­sen be­frie­digt wer­den kann. Teil­ha­be be­trifft aber z.B. auch die un­ein­ge­schränk­te Teil­ha­be an so­zia­len Rech­ten, die Teil­ha­be an sinn­stif­ten­den so­zia­len Be­zie­hun­gen oder am kul­tu­rel­len Leben. In einem rei­chen Land in Armut leben zu müs­sen, be­deu­tet dabei nach Staub-Ber­nas­co­ni (2013, S. 66), sich täg­lich zwi­schen der Be­frie­di­gung bio­lo­gi­scher, so­zia­ler, kul­tu­rel­ler, psy­chi­scher Be­dürf­nis­se ent­schei­den zu müs­sen.

Mit Blick auf die Di­men­si­on des Ein­kom­mens zeigt sich in Deutsch­land eine sehr un­glei­che Ver­tei­lung. Die Sche­re öff­net sich hier be­reits seit etwa zwei Jahr­zehn­ten deut­lich: Auf der einen Seite ent­fällt ein immer grö­ße­rer Teil des ge­sell­schaft­li­chen Ver­mö­gens auf das obers­te Zehn­tel der Be­völ­ke­rung. Auf der an­de­ren Seite wer­den Schutz­stan­dards in der Er­werbs­ar­beit ab­ge­schmol­zen und Er­run­gen­schaf­ten so­zi­al­staat­li­cher Si­che­rung ab­ge­baut. Das führt zu einer Zu­nah­me, so­wohl ver­ste­tig­ter Ar­muts­la­gen als auch dem Phä­no­men, dass Men­schen zwi­schen einem ‚Drin­nen‘ und einem ‚Drau­ßen‘ am Ar­beits­markt pen­deln und teil­wei­se trotz Er­werbs­ar­beit auf er­gän­zen­de So­zi­al­leis­tun­gen an­ge­wie­sen sind. Es han­delt sich um eine ge­sell­schaft­lich ex­plo­si­ve Ge­menge­la­ge: Armut und so­zia­le Un­gleich­heit ge­fähr­den den so­zia­len Frie­den, wenn viele Men­schen zeit­wei­se, wie­der­holt oder dau­er­haft von der Teil­ha­be am ge­sell­schaft­li­chen Leben aus­ge­schlos­sen blei­ben, wäh­rend we­ni­ge über ein Ver­mö­gen ver­fü­gen, das nicht durch Leis­tung zu recht­fer­ti­gen ist.

Was ist das Pro­blem?

Ge­gen­wär­tig er­le­ben wir eine von einer wirt­schafts­li­be­ra­len Ideo­lo­gie ge­präg­ten So­zi­al­po­li­tik, die die Ur­sa­che für so­zia­le Pro­ble­me aus­schlie­ß­lich im in­di­vi­du­el­len Ver­hal­ten sucht. Die­je­ni­gen, die arm und hil­fe­be­dürf­tig sind, wer­den als leis­tungs­un­wil­lig und zu wenig an­pas­sungs­be­reit dif­fa­miert. Diese Sicht­wei­se schei­tert aber be­reits daran, dass Men­schen schon mit völ­lig an­de­ren Vor­aus­set­zun­gen in die Ge­sell­schaft star­ten: Statt mit einer Chan­cen­gleich­heit haben wir es mit einer Ver­er­bung so­zia­ler Chan­cen und Ri­si­ken zu tun. Zudem kann es viel­fäl­ti­ge Grün­de geben, die in eine vor­über­ge­hen­de oder dau­er­haf­te Hil­fe­be­dürf­tig­keit füh­ren. Statt die not­wen­di­ge Hilfe und Un­ter­stüt­zung für diese Men­schen unter Vor­be­halt zu stel­len und auf die in­di­vi­du­el­le Ei­gen­ver­ant­wor­tung zu ver­wei­sen, muss eine wohl­ha­ben­de Ge­sell­schaft jenen Men­schen, die auf Hilfe an­ge­wie­sen sind, So­li­da­ri­tät zu­kom­men las­sen – nicht zu­letzt aus ei­ge­nem In­ter­es­se: Aus Not und Zwang kann keine Ei­gen­ver­ant­wor­tung ent­ste­hen. Eine sinn­vol­le Po­li­tik der Ak­ti­vie­rung muss des­halb eine Po­li­tik sein, die Men­schen Hand­lungs­spiel­räu­me er­öff­net. Kurz ge­sagt: Was diese Ge­sell­schaft braucht, ist eine um­fas­sen­de So­li­da­ri­tät mit den ver­meint­lich Schwa­chen und Hil­fe­be­dürf­ti­gen.

Statt­des­sen (und in Re­ak­ti­on auf diese neo­li­be­ra­le So­zi­al­po­li­tik) er­le­ben wir ge­gen­wär­tig die Zu­nah­me recht­po­pu­lis­ti­scher Strö­mun­gen, die eine Ant­wort auf diese Pro­ble­me in der Pro­pa­gie­rung ex­klu­si­ver So­li­da­ri­tä­ten sucht. Das ist eine his­to­risch be­kann­te und bil­li­ge Ant­wort, die auf die Kon­struk­ti­on eines ima­gi­nä­ren ‚Wir‘ be­ruht: Schuld sind die An­de­ren, und wenn ‚wir‘ die­sen An­de­ren so­zia­le Rech­te und Teil­ha­be­chan­cen vor­ent­hal­ten, wird es ‚uns‘ bes­ser gehen. Diese schein­ba­re Lö­sung, die mit den Ängs­ten vor dem so­zia­len Ab­sturz spielt, geht je­doch an den ei­gent­li­chen Pro­ble­men die­ser Zeit vor­bei. Denn eine sol­che ex­klu­si­ve So­li­da­ri­tät ver­tieft die Grä­ben in der Ge­sell­schaft, an­statt sie zu über­win­den. Es ver­schiebt das Pro­blem le­dig­lich auf an­de­re Grup­pen in der Be­völ­ke­rung, ohne es lösen zu kön­nen.

Es braucht ein zeit­ge­mä­ßes Sys­tem der so­zia­len Um­ver­tei­lung

Aber wie lässt sich das so­zia­le Pro­blem der Armut wir­kungs­voll über­win­den? Hier­zu be­dürf­te es einer So­zi­al­po­li­tik, die das Prin­zip der So­li­da­ri­tät zu ihrem Leit­bild er­hebt. Das be­deu­tet nicht die Rück­kehr zur ‚alten‘ So­zi­al­po­li­tik vor der Agen­da 2010 und Hartz IV. Viel­mehr be­deu­tet es, in Bezug auf das Ver­ständ­nis von so­zia­ler Si­che­rung weit dar­über hin­aus­zu­ge­hen: So­zi­al­staat­li­che Leis­tun­gen sind kein Luxus, auf den man auch ver­zich­ten kann, son­dern sie un­ter­stüt­zen Men­schen dabei, ihre Ziele im Leben zu ent­wi­ckeln und zu ver­wirk­li­chen, wenn sie das– aus wel­chen Grün­den auch immer –nicht aus ei­ge­ner Kraft schaf­fen. Die Au­to­no­mie des Ein­zel­nen ver­wirk­licht sich erst unter Be­din­gun­gen, die eine Ent­fal­tung der in­di­vi­du­el­len Po­ten­zia­le be­för­dern. Hier haben Kin­der aus wohl­ha­ben­den El­tern­häu­sern nach wie vor einen rie­si­gen Vor­teil ge­gen­über Kin­dern aus ein­kom­mens­ar­men Haus­hal­ten. Lei­der star­ten eben nicht alle von der glei­chen Start­li­nie, wie das die wirt­schafts­li­be­ra­le Ideo­lo­gie un­ter­stellt, son­dern die Chan­cen sind sehr un­gleich. Das setzt sich im wei­te­ren Leben fort.

Des­halb bleibt es auch un­zu­rei­chend, die Be­kämp­fung von Armut auf die Be­kämp­fung von Kin­der­ar­mut zu re­du­zie­ren: Arme Kin­der leben immer in Haus­hal­ten, die in oder am Rande der Armut ste­hen. Und in die­sen Haus­hal­ten wer­den nicht nur un­glei­che Teil­ha­be­chan­cen re­pro­du­ziert, son­dern es wird auch die Sicht auf eine ge­spal­te­ne Ge­sell­schaft wei­ter­ge­ge­ben, in der die ei­ge­ne Po­si­ti­on ganz unten ist, und in der sol­che Po­si­tio­nen (oben wie unten) als etwas Schick­sal­haf­tes er­schei­nen. So­zi­al­po­li­tik muss hier neue In­stru­men­te ent­wi­ckeln, die die Chan­cen einer Per­son, an der Ge­sell­schaft teil­zu­ha­ben an jedem Punkt der Bio­gra­fie un­ter­stüt­zen. Nur da­durch ließe sich der Teu­fels­kreis der Armut auf­bre­chen.

Die neo­li­be­ra­le Ant­wort auf das Pro­blem von Armut lau­tet: Hilf dir selbst! Die recht­po­pu­lis­ti­sche Ant­wort lau­tet: So­li­da­ri­tät soll nur für be­stimm­te Grup­pen gel­ten! Beide Ant­wor­ten ver­schär­fen das Pro­blem an­statt es zu lösen. Es be­darf von Sei­ten der Po­li­tik vi­sio­nä­re Lö­sungs­an­sät­ze, die sich trau­en, not­wen­di­ge Schrit­te dar­über hin­aus zu gehen.

Ein viel­dis­ku­tier­ter Lö­sungs­an­satz ist das be­din­gungs­lo­se Grund­ein­kom­men. Ein Vor­teil die­ses An­sat­zes liegt si­cher darin, dass es auf eine ra­di­ka­le Gleich­heit zielt: Indem alle die­ses Ein­kom­men er­hal­ten, ver­lie­ren So­zi­al­leis­tun­gen ihren stig­ma­ti­sie­ren­den Ef­fekt. Auch wäre damit eine Ver­ein­fa­chung und Ent­bü­ro­kra­ti­sie­rung bis­he­ri­ger Leis­tungs­sys­te­me mög­lich. Ein Nach­teil ist aber, dass damit die Re­la­tio­nen zwi­schen den Ein­kom­mens­grup­pen gar nicht an­ge­tas­tet wer­den. Da­ge­gen wir­ken An­sät­ze, die einen Aus­bau der Grund- oder Min­dest­si­che­rung for­dern, ziel­ge­rich­tet auf die­je­ni­gen, die ‚ganz unten‘ in der Ge­sell­schaft ste­hen. Ein Nach­teil hier­bei ist: Es muss eine Be­darfs­prü­fung statt­fin­den, die dazu führt, dass mit der Kon­struk­ti­on von ‚Be­dürf­tig­keit‘ erst ein Sta­tus am un­te­ren Rand der Ge­sell­schaft ge­schaf­fen und der be­tref­fen­de Per­so­nen­kreis zu einem Ge­gen­stand be­hörd­li­chen Han­delns ge­macht wird. Zen­tral wäre zudem, dass eine sol­che Grund­si­che­rung nicht, wie bis­her, nur das Mi­ni­mum an Teil­ha­be ab­de­cken darf, son­dern be­stehen­de Chan­cen­un­gleich­hei­ten und Teil­ha­be­bar­rie­ren um­fas­send und ef­fek­tiv be­kämp­fen muss.

Wie schon Bert­hold Brecht sagte: Erst kommt das Fres­sen, dann die Moral. Auf die­sen Zu­sam­men­hang über­tra­gen könn­te das hei­ßen: Erst muss die Armut über­wun­den wer­den, dann kön­nen Men­schen ei­gen­ver­ant­wort­lich han­deln. Das zu er­mög­li­chen, wäre die Auf­ga­be einer of­fen­siv und prä­ven­tiv aus­ge­rich­te­ten So­zi­al­po­li­tik.

Li­te­ra­tur

Staub-Ber­nas­co­ni, Sil­via (2013): Kri­ti­sche So­zia­le Ar­beit – ohne auf eine Po­li­ti­sie­rungs­pha­se So­zia­ler Ar­beit war­ten zu müs­sen, in: Sten­der, Wolf­ram/Krö­ger, Danny (Hrsg.): So­zia­le Ar­beit als kri­ti­sche Hand­lungs­wis­sen­schaft. Bei­trä­ge zur (Re-)Po­li­ti­sie­rung So­zia­ler Ar­beit, Han­no­ver.

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